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Mikro-Häuser als Zukunft des Wohnkomforts

El Sindicato, Small Houses, TASCHEN

El Sindicato, Parasitic House, Quito, Ecuador 2019. Dieses winzige Haus (12 m²) auf dem Dach eines bestehenden Gebäudes im Stadtteil San Juanin in Quito klammert sich mittels eines Stahlfundaments an seinen „Wirt“. © El Sindicato Arquitectura

Wohnen in kleinen Einheiten liegt im Trend. Was in Japan lange Tradition hat, dringt zunehmend auch in die Metropolen anderer Weltgegenden vor. Wobei viele Menschen nicht ganz freiwillig in kleinere Wohnungen oder Häuser einziehen. Die hohen Mietkosten zwingen sie dazu. Der Autor Philip Jodidio sieht in dieser Entwicklung gar die Zukunft der Architektur, wie er in dem bei TASCHEN erschienen Band „Small Houses“ behauptet. „Zwar beruht der weltweite Trend kleinerer Häuser auf vielerlei praktischen Gründen, doch wurzelt er auch tiefer in der Geschichte der modernen Architektur“, schreibt er.

Es sind bekannte Bilder von Häusern in Tokio, die in noch so kleine Nischen gequetscht werden. Dabei besteht die Kunst dieser Entwurfskategorie darin, trotz der geringen Fläche Wohnqualität zu schaffen. Eines der großen Vorbilder dafür ist Tadao Ando, der mit seinem Sumiyoshi „Row House“ (auch Azuma House genannt) in Osaka bereits 1976 zeigte, wie auf nur 34 m² Lebensqualität entstehen kann. Der harte Betonbau wird durch einen überraschenden Innenhof bereichert, den die Bewohner durchqueren müssen, wenn sie ins Schlafzimmer wollen. Das bringt Licht und Luft ins Haus. Andos Entwurf ist auch ein Beweis dafür, dass es für hochwertige Ästhetik nicht viel Fläche braucht.

Im Gegenteil – denn wenig Grundfläche fordert das kreative Potenzial der Architekten geradezu heraus. Um alle notwendigen Funktionen unterzubringen, ist es notwendig, viel genauer hinzusehen und nachzudenken. Dies führt zu oftmals erstaunlich raffinierten Ergebnissen. Neben winzigen Häusern in urbanen Räumen, die einfach aus den Gegebenheiten und der Notwendigkeit zur Verdichtung heraus entstehen, sind Mikro-Häuser auch auf dem Land und im Wald immer häufiger zu finden. In vielen Fällen spielen gesteigertes Umweltbewusstsein, der Wunsch nach wenig Ressourcenverbrauch, aber auch die industrielle Vorfertigung wichtige Rollen. Das „Meteorite“ (Kontiolahti, Finnland, 2020) von Ateljé Sotamaa etwa besteht aus vorproduzierten Brettsperrholzpaneelen und ist zudem sehr ungewöhnlich geformt. In den dicken Wänden fungiert ein Luftzwischenraum als Isolierung. Das Haus, so die Architekten, ist „durch Luft isoliert und profitiert von natürlicher Belüftung“.

Rückzugsort in Finnland – das „Meteorite“ (Kontiolahti, 2020) von Ateljé Sotamaa besteht aus vorgefertigten Brettsperrholzpaneelen und ist ungewöhnlich geformt. © TASCHEN

Stadt und Land

Zu den Vorbildern der Tokioter „Pocket Houses“ und der Tiny-House-Bewegung in den USA kommt das skandinavische Wochenendhäuschen, das an explizit entlegenen Ort steht. Ihnen allen gemein ist der größte Vorteil des kleinen Hauses – es ist kostengünstig. Deshalb wird auch oft experimentiert, was mitunter zu exemplarischen Vorbildern für Großbauten führt. „Die hier vorgestellten kleinen Häuser haben sich auch als fruchtbarer Boden für die neuesten Techniken in architektonischer Gestaltung und Fertigung erwiesen. Dank computergesteuerter Systeme, beispielsweise zum Zuschneiden von Brettsperrholz in jede gewünschte Form, dienen kleine Häuser als Idealvorlage für moderne Holzhausversionen“, betont Jodidio.

Hiroyuki Unemori, House Tokyo, Tokio, Japan 2019. Dieses Holzhaus wurde auf einem 52 m² großen Grundstück errichtet. Mit einer Grundfläche von nur 27 m² umfasst es ein Unter- und ein Obergeschoss. © Kai Nakamura

Urbanes Lebensgefühl

Das „Love2 House“ (Tokio, 2019) von Takeshi Hosaka ist mit seinen 19 m² wirklich klein. Neben den nagaya (winzige Familienwohnungen der Edo-Zeit) inspirierte den Architekten auch Le Corbusiers 16,8 m² kleines Cabanon. Das ursprüngliche Haus des Architekten Hosaka und seiner Frau heißt „Love House“ (Yokohama, 2005), daher der Name Love2 für den Zweitwohnsitz in Tokio. Das schräge Dach des Hauses ermöglicht sehr hohe und helle Innenräume – wodurch die 19 m² Wohnfläche fast großzügig erscheinen. Das Haus ist in drei Bereiche für Küche, Ess- und Schlafbereich geteilt. Ein Fenster kann zur Straße hin geöffnet werden, was Gespräche mit Passanten ermöglicht. „Das Blumenbeet an der Straßenfront nutzen wir auch als Garten. In diesem Haus spüren wir die Nähe der Stadt“, sagt Hosaka.

Takeshi Hosaka, Love2 House, Tokio, Japan 2019. © Koji Fujii / TOREAL

Der südkoreanische Architekt Minwook Choi (Smaller Architects) hat mit „Seroro“ (deutsch: vertikal) die Räume eines Gebäudes im Herzen von Seoul aufeinandergestapelt. Er zeigt damit einen Ausweg, den extrem hohen Grundstückspreisen in Städten wie Tokio oder eben Seoul entgegenzuwirken. Auf Straßenebene wurde Raum für einen Parkplatz gelassen, im ersten Stock befinden sich der Wohnbereich und ein Bad. Darüber liegen Küche und Esszimmer, während die dritte Etage ein Schlafzimmer und ein weiteres Badezimmer beherbergt. Das Ankleidezimmer und eine Badewanne sind im vierten, 16 m² großen Stockwerk untergebracht. Die meisten Fenster mit Aussicht auf einen Park geben den Blick nach Süden und Westen frei. Die Form des Hauses folgt der Krümmung des Grundstücks.

Smaller Architects, Seroro Seoul, Südkorea 2020. Die einzelnen Räume wurden auf vier Ebenen sozusagen übereinandergestapelt. © TASCHEN, Foto: Jong-Seok BYEON

Rückzugsorte

Weitere Aspekte von Mikro-Häusern sind die Netzunabhängigkeit sowie die touristische Nutzung von derartigen Gebäuden mitten in der Natur. Beides vereint die Minilodge von Cameron Anderson in New South Wales (Australien). Laut dem Architekten ist sie als luxuriöse, netzunabhängige Touristenunterkunft für zwei Personen geplant. Die Außenverkleidung besteht aus verzinktem Stahl, das Innere ist mit Holz verkleidet – ein Hinweis auf die lokal übliche ländliche Bauweise mit Heuschuppen und Nebengebäuden. Im offenen Grundriss gibt es nur einen einzigen geschlossenen Raum – das WC. Eine Solaranlage auf dem Dach erzeugt Strom. Der Regenwasserspeicher fasst 40.000 Liter. Das Haus wurde aus recycelten, auf dem Grundstück gefundenen Ziegelsteinen errichtet. Lokales Blackbutt-Holz (Eucalyptus pilularis) wurde für die doppelt verglasten Fenster und Türen verwendet sowie für das Oberflächenfinish der Verschalung aus Armourpanel-Sperrholz und die innere Wandverkleidung.

Netzunabhängige Kleinhäuser können im Grunde überall aufgestellt werden. Dieses Beispiel zeigt Cameron Andersons Gawthorne’s Hut in Mudgee, New South Wales, Australien 2020.© Amber Hooper

Alpiner Festungsturm

Unter den vorgestellten Projekten findet sich auch ein Entwurf eines österreichischen Architekturbüros: Die „Mountain Cabin“ in Laterns von Marte.Marte aus dem Jahr 2011. Es ist ebenfalls eine Minilodge, die von dem Vorarlberger Brüderpaar Bernhard und Stefan Marte wie ein Observatorium in die alpine Landschaft gestellt wurde. Der Zugang zur Turmstruktur erfolgt über eine Treppe, die zur Eingangstür führt. In das aus rauem Beton errichtete Haus (Grundfläche 43 m²) wurden quadratische, unterschiedlich große Fenster gesetzt. Eine Wendeltreppe aus Holz und Stahl verbindet den Wohnbereich des Obergeschosses mit Schlafzimmer und Ruheräumen. Im Inneren herrscht ein Materialmix aus rohen Betonoberflächen und unbehandelten Eichenböden vor. Letztere erinnern an die Tradition alpiner Schutzhütten und Bauernhäuser. Nicht nur der Beton steht dazu im Kontrast, sondern auch die schwarzen Metalloberflächen an Türen und Einbauten. Die äußere Strenge wird im Inneren fortgesetzt, erhält jedoch durch das reichlich verwendete Holz ein Stück weit Gemütlichkeit.

Marte.Marte, Mountain Cabin, Laterns, Österreich 2011. © Marc Lins Photography

Philip Jodidio stellt in „Small Houses“ kleine Bauwerke aus 25 Ländern von 57 Architekturbüros rund um den Globus vor. Er fragt sich dabei, ob nicht kleine und kleinste Räume einen modernen Komfort definieren könnten. Als Treiber dieser Entwicklung macht er jedenfalls die steigende Überbevölkerung und schwindenden Ressourcen aus. Übersieht dabei jedoch völlig die sozialen Ursachen für den Trend hin zu kleineren Wohnflächen, wie das Wegbrechen der Mittelschicht, exorbitante Mietkosten, die Inflation oder explodierende Energiekosten. Selbstredend kann das Nachdenken darüber, wie viel Raum wir Menschen zum Wohnen brauchen, durchaus zur grundsätzlichen Frage führen, was wirklich von Bedeutung ist – in unserem Leben.

Small Houses, Philip Jodidio, Hardcover, 24,6 x 37,2 cm, 3,41 kg, 424 S., ISBN 978-3-8365-8701-3 (Deutsch, Englisch, Französisch). Verlag: TASCHEN. © TASCHEN

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