Wenn es um Ikonen im Möbeldesign geht, muss man weit ins 20. Jahrhundert zurückblicken. In den jüngsten Dekaden sind wenige Entwürfe entstanden, die bereits heute als Ikonen gelten dürfen. Eine große Ausnahme ist der Sessel „Nemo“, den Fabio Novembre gestaltet hat und der 2010 von Driade herausgebracht wurde. In Novembres Schaffen spielen Ideen, die Geschichten erzählen, die Hauptrollen – sowohl im kleinen als auch im großen. Der in Lecce (Apulien) geborene Italiener gründete sein Studio 1994 in Mailand, wo er Architektur studiert hatte. Im Feld der Baukultur zählen Namen wie MediaMarkt, AC Milan, Stuart Weitzman oder Lamborghini zu seinen Kunden. In den Produktdesigns kommt Novembre immer wieder auf das menschliche Gesicht zurück, wie es in der griechisch-römischen Antike abgebildet wurde: Sei es die Vase „Murano“ (2012) für Venini, das „Venus“-Regal für Driade (2017) oder ein Teppich für Tapis Rouge (APOLLO – AFRODITE, 2022). Auch das Gesicht von „Nemo“ ist klassisch und der Name stammt aus Homers Odyssee, in der Odysseus sich gegenüber dem Zyklopen Polyphem als Nemo (dt. Niemand) ausgibt, um ihn zu überlisten.

Im Lauf seiner Karriere hat Fabio Novembre für viele bekannte italienische Designmarken Objekte kreiert. Er ist Teil eines Kanons, der Italien (neben Skandinavien) zum weltweit wichtigsten Land im Möbeldesign macht. FORMFAKTOR traf den Architekten und Designer auf dem jüngsten Salone del Mobile und sprach mit ihm unter anderem über die Beziehung zwischen Unternehmer und Designer, die Veränderungen in den kreativen Berufen und das Thema Glück.
FORMFAKTOR: Wir befinden uns hier auf dem Kartell-Stand, ein Unternehmen, das für seine Objekte aus Kunststoff bekannt ist, auch wenn sie seit kurzem in andere Richtungen gehen. Was denken Sie über das Material Kunststoff?
Fabio Novembre: Sehr gute Frage, denn ich bin wahrscheinlich einer der letzten, der denkt, dass Kunststoff ein ganz tolles Material ist. Ich liebe Plastik. Es ist eines der intelligentesten Materialien, das der Mensch je erfunden hat, denn es kommt in der Natur nicht vor. Holz, Marmor sogar Glas kommt in gewisser Hinsicht aus der Natur. Übrigens – kennen Sie die Geschichte von Glas, wie es an den Stränden von Sizilien entdeckt wurde. Sie machten ein Feuer am Strand und durch das Silizium im Sand entstand dieses neue glasartige Material. Glas kommt also aus der Natur, aber Plastik überhaupt nicht. Giulio Natta (Anm.: gemeinsam mit Karl Ziegler, 1963) gewann den Nobelpreis für seine Innovationen mit diesem tollen Material. Das war wie eine Superpower. Denken Sie an die Lebensmittelversorgungskette und natürlich den industriellen Herstellungsprozess: Glas war am leichtesten herzustellen und am billigsten. Aber dann – ich meine, wie immer sind die Menschen schrecklich und masochistisch – wurde Plastik missbraucht, übermäßig verwendet, es wurde sehr schlecht eingesetzt. Und das ist der Grund, warum Plastik in der öffentlichen Wahrnehmung sehr negativ gesehen wird. Aber Plastik an sich ist ein Supermaterial.
FORMFAKTOR: Sie haben in Ihrer Karriere für viele bekannte Unternehmen gearbeitet. Für Natuzzi, Busnelli, Seletti, Cappellini, Venini oder Driade, wofür sie mehrere Jahre die künstlerische Leitung innehatten. Wie wichtig ist diese Verbindung von Unternehmer und Designer?
Fabio Novembre: Mit Enrico Astori war ich sehr eng verbunden. Und dadurch auch mit Driade. Ich meine, Persönlichkeiten wie Enrico oder Claudio Luti (Anm.: Kartell) verkörpern die Geschichte des italienischen Designs – neben den Gestaltern selbst. Wie ich immer sage, braucht es zwei, um einen Tango zu tanzen: Einen Hersteller und einen Designer. Ein Designer alleine für sich kann gar nichts erreichen. Es braucht immer eine Figur mit sehr viel Offenheit wie einen Unternehmer. Neben den Legenden gibt es auch eine junge Generation von Unternehmern, die diese Offenheit mitbringen. Wie zum Beispiel Charley Vezza (Anm.: Italian Radical Design) oder Lorenza und Federico, die Kinder von Claudio Luti. Das ist sehr wichtig, wenn wir die Vorrangstellung des italienischen Designs erhalten wollen.

FORMFAKTOR: Neben Ihren Produktdesigns haben Sie auch eine Reihe von herausragenden Architekturprojekten umgesetzt. Zum Beispiel für die MediaMarkt-Kette. Was waren dabei die größten Herausforderungen?
Fabio Novembre: Es ist interessant, wie diese Arbeit begann. Der italienische CEO von MediaMarkt beauftragte mich damit, eine Filiale in Mailand zu renovieren. Es sollte allerdings auf eine revolutionäre Weise geschehen. Das gesamte Konzept sollte revolutioniert werden. Grundsätzlich war die Idee sehr einfach, denn wir übertrugen den Aufbau von High-End-Modehäusern wie, sagen wir, Rinascente – auf ein Kaufhaus für Unterhaltungselektronik. Das war tatsächlich revolutionär, wenn man bedenkt, dass Media Markt seine Waren auf Paletten angeboten hatte. Es ist ein Konzept, das darauf abzielt, aus dem Konsum ein Erlebnis zu machen. Und wir taten das, indem wir dem Ganzen kulturelle Tiefe gaben. Ausgehend von diesem Beispiel in der Viale Certosa in Mailand, von dem das Headquarter begeistert war, wurde das Konzept in ganz Europa angewendet.
FORMFAKTOR: Sie haben Ihr Studio im Jahr 1994 gegründet. Wie hat sich die Arbeit des Designers, des Architekten in diesen Jahren verändert?
Fabio Novembre: Es hat sich sehr verändert, und zwar aus einem einfachen Grund: Stellen Sie sich die Welt im Jahr 1994 vor. Damals lebten auf diesem Planeten vielleicht 5 Milliarden Menschen, heute sind es 8 Milliarden. Das bedeutet, heute wollen sehr sehr sehr viel mehr Leute Architekten, Designer, Unternehmer oder Journalisten sein. Wir versinken in Menschen, die alle etwas werden wollen. Es ist eine Frage von Zahlen. Es ist eine andere Welt. Damals kamen Leute einfach zu dir und beauftragten dich, heute geht alles nur noch über Wettbewerbe. Es herrscht ständige Konkurrenz.
FORMFAKTOR: Deshalb ist es wohl für junge Designer heute viel schwieriger …
Fabio Novembre: … sehr viel schwieriger. Ich habe zwei Töchter, 17 und 21, und ich möchte nicht, dass sie eine Karriere wie meine anstreben. Die Chancen stehen schlecht. Für meine Karriere gab es das ideale Zeitfenster. Aber die Welt ist nicht mehr die gleiche. Auch die Künstliche Intelligenz verändert unser Feld enorm. Heute muss man mit neuen, ganz anderen Ideen kommen. Jeder historische Moment muss neu interpretiert werden. Aber die Zukunft ist noch nicht geschrieben, sie will gestaltet werden.
FORMFAKTOR: Es gibt nicht sehr viele Designikonen, die in den letzten 15 Jahren entstanden sind. „Nemo“ gehört auf jeden Fall dazu. Wenn Sie von heute darauf blicken, hätten Sie etwas anders gemacht?
Fabio Novembre: Interessante Frage: Wenn ich mir „Nemo“ ansehe, denke ich, wow, ein cooles Projekt. Es kommt mir vor, als wäre es gar nicht von mir. Nach einer Zeit gehören die Dinge, die du gestaltet hast, nicht mehr dir, sondern sie gehören allen Menschen. Ich mag es. Wenn ich daran denke, dass es die dreidimensionale Antwort auf ein Zitat von Oscar Wilde war, bin ich emotional berührt. Wissen Sie, ich begann diese Arbeit wirklich von einem Satz von Wilde, der sinngemäß lautet: „Humans always lie, but give them a mask and they will tell the truth.“ Daraus entwickelte ich die Idee eines Sessels in Form einer Maske, in die man sich setzen kann und die Wahrheit spricht – bequem von Zuhause aus. Man könnte dieses Projekt als kleines dreidimensionales Gedicht sehen. Das ist sehr stimmig im Hinblick darauf, wie ich meinen Beruf sehe. Für mich geht es nicht um ein komfortables Möbel oder um einen schönen Stoff etc. So bin ich nicht, überhaupt nicht. Wenn ich nichts zu sagen habe, halte ich lieber den Mund. Wenn ich etwas zu sagen habe, wird daraus ein Objekt, eine Lampe, ein Löffel, eine Türklinke oder eine Architektur.
FORMFAKTOR: Abschließende Frage: Was macht Sie glücklich?
Fabio Novembre: Für mich gibt es einen riesigen Grund, um glücklich zu sein. Ich wurde noch einmal Vater, 20 Jahre nach dem ersten Mal. Es ist ein wunderschöner, jetzt einjähriger Junge. Ich wache in der Früh auf, eigentlich weckt er mich auf, er kommt zu mir und ruft Papa, Papa: Das lässt mich fliegen. Das Leben lässt dich fliegen, dich um jemanden zu kümmern, lässt dich fliegen. Ein Kind zu haben ist noch immer die luxuriöseste Sache in der Welt. Wenn Leute meinen, reich zu sein bedeutet einen Privatjet zu haben oder ein Ferrari-Cabrio zu besitzen, sage ich: Nein, nein, nein. Der größte Luxus in der Welt ist dein Sohn, der dich anlächelt. Es sind die einfachen Dinge. Wir brauchen eine neue Definition von Luxus. Eigentlich hasse ich das Wort Luxus. Es beleidigt mich. Als ich jung war, war Luxus etwas Beleidigendes. Reiche Leute haben Intellektuelle unterstützt, weil sie sich irgendwie schuldig fühlten, reich zu sein. Dieses System wurde komplett unterwandert. Wer heute nicht reich ist, ist ein Niemand. Deshalb haben Intellektuelle heutzutage keine Bedeutung mehr. Dabei ist das Denken immer noch die wichtigste Fähigkeit des Menschen. Aber was weiß ich schon, ich bin altmodisch.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Oscar Wilde Zitat lautet: „Man is least himself when he talks in his own person. Give him a mask, and he will tell the truth.“ (deutsch etwa: Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen.)