Ende der 1960er-Jahre griff die Bewegung des Radical Design die Dominanz des „guten Geschmacks“ an. Gruppen wie Superstudio, Archizoom, UFO, Gruppo Strum oder Gruppo 9999 stellten den Primat des Konsumdenkens infrage. Sie dachten quer und entwickelten eine Gegenkultur, die mit den Dogmen der Moderne brach, was schließlich in den frühen 80er-Jahren zur Postmoderne führte und zu Strömungen wie Memphis. Tatsächlich wurde diese Gruppe unter der Federführung von Ettore Sottsass 1981 gegründet, um das Radical Design wieder aufleben zu lassen. Es war also nur folgerichtig, als Charley Vezza (seit 2012 Eigentümer von Gufram) Anfang 2022 Memphis Milano übernahm und die Italian Radical Design-Gruppe ins Leben rief.
Doch damit nicht genug, im März des Jahres 2023 folgte Meritalia. Mit dieser 80er-Möbelmarke im Portfolio verfolgte Vezza seine Mission nachdrücklicher denn je, die Philosophie des Radical Design zu bewahren und neu zu beleben. 2025 gelingt der Italian Radical Design-Gruppe ein weiterer Coup mit der Präsentation einer Reihe von Möbeln aus dem Memphis-Archiv, die seit der Zeit ihrer Entstehung nicht mehr produziert wurden. Allen voran ein Tisch von Ettore Sottsass, den er für das gemeinsame Haus mit Lebenspartnerin Barbara Radice entwarf.
Im FORMFAKTOR-Interview spricht Charley Vezza über den Begriff der Radikalität heute, das Weitertragen des Erbes und neue Märkte für Radical Design.
FORMFAKTOR: Die auffälligste Neuheit bei Italian Radical Design ist der Venezia-Tisch von Ettore Sottsass. Ein Schatz aus dem Memphis-Archiv.
Charley Vezza: Auf jeden Fall. Es ist so, dass es neben den Memphis-Klassikern wie dem „First“-Chair von Michele De Lucchi oder „Carlton“ und „Tahiti“ von Ettore Sottsass im Memphis-Archiv sehr viele Fotos gibt zum Beispiel von Ausstellungen aus den 80er-Jahren oder Zeichnungen von Stücken, die seit damals nie mehr produziert wurden. Wir tauchten tief ins Archiv ein, fanden interessante Entwürfe und produzieren sie jetzt original wieder.
FORMFAKTOR: Gibt es da noch mehr?
Charley Vezza: Ich weiß nicht, ob das eine Sache sein wird, die wir jedes Jahr machen. Es war gut, es jetzt zu machen, aber ich glaube nicht, dass es eine ständige Einrichtung wird. Der Memphis-Katalog enthält mehr als 200 Entwürfe. Es hatten nur einige Möbel-Typologien gefehlt, wie das Westside-Sofa und der Armchair von Sottsass oder der Sheraton-Spiegel von Luigi Serafini. Es wird in der Zukunft sicher das eine oder andere Design geben, das wir neu herausbringen, aber nicht jedes Jahr.
FORMFAKTOR: Immer wieder werden Sie nach dem Begriff des Radikalen gefragt. So auch jetzt. Was ist heute noch radikal?
Charley Vezza: Heutzutage ist nichts radikal – wahrscheinlich. Ohne Zweifel gibt es Trends in der Möbelindustrie, die man auf jedem Messestand oder in den Showrooms dieser Welt beobachten kann. Ich verurteile das nicht. Das hat seine Berechtigung. Es sind schöne Möbel, die Menschen mögen sie und sie verkaufen sich gut. Es ist nur so – Möbel sind nicht Mode. Wenn man eine Jacke oder Hose kauft, trägt man sie vielleicht zwei Jahre und wirft sie dann weg. Ein Sofa hingegen wird gekauft, um es sein Leben lang zu behalten. Es wird neu bezogen, an die Kinder vererbt oder weiterverkauft. Ich denke, dass etwas, das man so lange behält, nicht einem Trend folgen sollte. Vielleicht bedeutet radikal heute, nicht diesen Trends zu folgen. Nicht zu machen, was alle anderen machen. Nonkonformistisch sein. Natürlich gibt es Anpassungen bei Textilien oder Farben, aber grundsätzlich bleiben unsere Stücke gleich.
FORMFAKTOR: Wie gelingt es, das Erbe zu erhalten und weiterzutragen? Über Jahrzehnte und in die Zukunft. Zum Beispiel beim Cactus.
Charley Vezza: Der Cactus von Gufram ist ein sehr gutes Beispiel. Von Beginn an (1972) war er in vielen Zeitschriften zu sehen und auch Teil von Ausstellungen, wie der MoMA-Sammlung. Das heißt, er war in der publizierten Öffentlichkeit und in Museen sehr stark vertreten, hingegen sehr viel weniger in privaten Wohnungen und Häusern. Deshalb bringen wir von Zeit zu Zeit neue Varianten des Cactus auf den Markt. Sei es eine neue Farbe oder wir fügen kleine Pilze hinzu (Anm.: GUFRAM x A$AP Rocky) oder wir führen einen Boring Cactus ein. Es geht einfach darum, den ikonischen Charakter dieses Designs am Leben zu erhalten.
FORMFAKTOR: Der Boring Cactus ist wohl der radikalste bis jetzt. Denn langweilig sein, ist ja ein No-Go.
Charley Vezza: (lacht) Ja, einen Cactus in fadem Grau zu machen, ist radikal.
FORMFAKTOR: Radikal zu sein, bedeutet nonkonformistisch zu sein. Trotzdem muss man auch Geschäfte machen. Business und Radikalität – ein Widerspruch?
Charley Vezza: Ja, das ist ein totaler Widerspruch. Aber wir haben drei Marken, die jeweils eine Nische besetzen und die von der Industrie wertgeschätzt werden. Alle Marken sind mehr als 30 Jahre alt. Und mit der Zeit lichtet sich der Nebel und nur die wirklich guten Stücke bleiben übrig. Wie gesagt, es sind Nischenprodukte (Meritalia vielleicht ein bisschen weniger), die sich sowieso nicht für alle eignen. Allerdings ist der Markt für diese Designs sehr sehr viel größer geworden. Früher gab es nur Europa, heute ist es auch die USA und Asien. Es war immer ein kleiner Kundenkreis, aber heute sind es kleine Kundenkreise in sehr vielen Ländern. Natürlich ist Italien immer noch die Nummer 1. In Italien zu verkaufen bedeutet aber nicht, dass man nur an Italiener verkauft, es gibt auch viele Menschen, die Italien besuchen, um hier einzukaufen.
FORMFAKTOR: Wie wichtig sind Kooperationen mit jungen Designern?
Charley Vezza: Das ist fundamental. Weil es mir ein Anliegen ist, radikal zu bleiben, möchte ich nicht mit Designern arbeiten, die auch viel für andere Firmen designen. Das heißt, ich strebe immer danach, junge aufstrebende Talente zu finden, die nicht exklusiv für uns, aber doch hauptsächlich für uns arbeiten. Und jung bedeutet in der Designwelt nicht wirklich jung. Ein Designer mit 40 gilt noch immer als jung, ein Architekt sogar mit 50. Zum Beispiel präsentieren wir dieses Jahr ein fantastisches Sofa von Francesco Meda, dem Sohn von Alberto Meda. Ich mag die Tatsache, dass er die Tradition des Vaters fortführt, gleichzeitig aber ganz anders designt. Wir sind Freunde und werden in Zukunft noch einiges auf den Weg bringen. Es ist wichtig, Menschen zu finden, nicht nur um ein Objekt zu gestalten, sondern um gemeinsam eine Geschichte zu erzählen.
Vielen Dank für das Gespräch!