Studierende der Universität Kassel haben einen nie realisierten Entwurf des Bauhauslehrers Ludwig Hilberseimer in der seit 2017 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Laubengang-Siedlung in Dessau-Törten neu gebaut. Unter der Leitung von Univ.-Prof. Philipp Oswalt, Leiter des Fachgebiets Architektur und Entwerfen, errichteten Studierende und Schüler im Rahmen eines Design/ Build-Projekts einen L-Haustyp von Hilberseimer direkt neben einem der genossenschaftlichen Laubenganghäuser. Das Besondere daran ist, dass der Architekt diesen erweiterbaren Haustypus in einfacher Holzbauweise entwarf. An die 400 solcher Einfamilienhäuser in drei unterschiedlichen Ausführungen sollten die unter dem damaligen Bauhausdirektor Hannes Meyer (1928-1930) errichteten Laubenganghäuser ergänzen. Daraus hätte sich eine sehr innovative Mischbebauung ergeben, mit Berücksichtigung heterogener Wohnbedürfnisse. Aufgrund der 1929 einsetzenden wirtschaftlichen und politischen Krise wurde sie allerdings nie umgesetzt. „Der mit Abstand innovativste Beitrag des Bauhaus zum Wohnungsbau ist heute nahezu vergessen. Zumal er auch nicht in das gängige Bauhaus-Klischee passt: Nicht aus Glas, Stahl und Beton, sondern in einfacher Holzbauweise, preiswert, ökologisch und erweiterbar“, sagt Oswalt, der von 2009 bis 2014 auch die Stiftung Bauhaus Dessau leitete. Dem Fachbereich „Architektur und Entwerfen“ an der Universität Kassel ist es zu verdanken, dass einerseits ein Forschungsschwerpunkt den Fokus auf einen der führenden Vertreter des Neuen Bauens, Hannes Meyer legt, der im Vergleich zu den beiden anderen Bauhausdirektoren Walter Gropius und Mies van der Rohe von der Wissenschaft eher stiefmütterlich behandelt wurde, und andererseits die systematischen Studien und Entwicklungen von Ludwig Hilberseimer zu neuen Lösungen für das urbane Wohnen wieder aufgegriffen werden. Was im Hinblick auf die gegenwärtige Wohnungsdebatte höchste Relevanz besitzt. Als zweiter Bauhausdirektor richtete Meyer das Bauhaus neu aus, indem er die Zusammenarbeit mit der Industrie forcierte und eine eigene Bauabteilung etablierte. Er suchte nach einer am sozialen Gebrauch orientierten Architektur.
Der jetzt errichtete Holzbau ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es handelt sich um eingeschossige Einfamilienhäuser auf minimierten Grundstücken von weniger als 200 m², die es erlauben, städtische Dichten zu erreichen und damit die Vorzüge der Flachbauten, wie einfache, billige Konstruktion, direkter Zugang zum Garten und Privatheit mit den Vorzügen urbaner Quartiere (die Laubenganghäuser) zu verbinden. Weiters fördert die kleinräumige Durchmischung dieser unterschiedlichen Wohnweisen in Flachbau und Hochbau den sozialen Zusammenhalt und ermöglicht Synergien: Der verdichtete Flachbau kann von den Dienstleistungsangeboten des urbanen Wohnens profitieren, während sich in den Wohnungen der Geschossbauten freier Blick auf großzügiges Grün bietet. Außerdem entsteht durch diese Mischbauweise ein klar artikulierter Raum. „Damit wird erstmalig die innovative städtebauliche Gesamtkonzeption verdeutlicht und zugleich der nicht minder anregende Haustyp von Hilberseimer präsentiert. Wir korrigieren ein einseitiges Bild des Bauhaus und geben einen Impuls zur heutigen Wohnungsbaudebatte. Zugleich ist dies im Jubiläumsjahr des Bauhaus eine Art Reenactment,“ sagt Oswalt.
Weitere positive und zukunftsfähige Eigenschaften dieses Hauses sind der ökologische Holzbau – die moderne Holzbauweise ermöglicht eine hohe Vorfertigung und damit eine preiswerte, schnelle Herstellung sowie ein angenehmes Raumklima – und die Möglichkeit des schrittweisen Wachstums. Das Prinzip des wachsenden Hauses erlaubt sowohl das Erweitern als auch Schrumpfen, je nach aktuellem Wohnbedarf.
An dem Projekt sind neben der Universität Kassel auch Constructlab, die Hochschule Anhalt, das Walter-Gropius-Gynmasium Dessau, der Werkbund Sachsen-Anhalt sowie die Firma Wilkhahn als Kooperationspartner unter anderem für die Innenausstattung beteiligt. Schüler*nnen des Dessauer Walter-Gropius-Gymnasiums haben für die Nutzung des Gebäudes mehrere Szenarien entwickelt – vom „grünen Klassenzimmer“ über ein „Reallabor“ städtischer Gemeinschaft bis zum Ausstellungsort und Musterhaus. Für diese vielfältigen Nutzungsvarianten lieferte Wilkhahn unter anderem den per Akkubetrieb höhenverstellbaren, beschreib- und klappbaren „Timetable Lift“ (Design: Andreas Störiko) oder das Bewegungs-, Steh- und Stützelement „Stitz“ (Design: ProduktEntwicklung Roericht PER), einen Klassiker aus dem Umfeld der HfG Ulm, der Nachfolgeschule des Bauhaus, mit der Wilkhahn bis zur Schließung 1968 eng zusammengearbeitet hatte.
Das „wachsende Haus“ soll bis September 2020 in Dessau genutzt und danach wieder abgebaut werden. Dann wird es voraussichtlich in der Umgebung des Hauses Lemke in Berlin-Hohenschönhausen (Mies van der Rohe) wieder aufgebaut. Van der Rohe hatte dort den Gebäudetyp von Hilberseimer aufgegriffen und daraus eine luxuriöse Villa gemacht. Auch ein Beweis für die hohe Flexibilität dieses Gebäudekonzepts von Hilberseimer.