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Die große Geste – Pritzker Prize 2025 für Liu Jiakun

von Markus Schraml
Pritzker-Preisträger 2025 – Liu Jiakun. © The Hyatt Foundation / The Pritzker Architecture Prize

Der weltweit renommierteste Architekturpreis, der Pritzker Architecture Prize, geht in diesem Jahr an den chinesischen Architekten Liu Jiakun. Geboren 1956 in Chengdu, waren fast alle seine unmittelbaren Familienmitglieder Ärzte. Der junge Liu allerdings zeigte viel mehr Interesse an kreativen Künsten und erkundete die Welt durch Zeichnen und Literatur. 1978 wurde er zum Studium am Institut für Architektur und Ingenieurwesen in Chongqing (heute Chongqing University) angenommen. Damals verstand er nicht ganz, was es eigentlich bedeutete, Architekt zu sein. Was er aber plötzlich erkannte – und was bis dahin nicht denkbar schien – war der Eindruck, dass sein eigenes individuelles Leben wichtig ist.

Liu schloss sein Studium 1982 mit einem Bachelor of Engineering in Architektur ab und gehörte zur ersten Generation von Absolventen, die in einer Zeit des Umbruchs Chinas mit dem Wiederaufbau des Landes beauftragt wurden. Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er für das staatliche Chengdu Architectural Design and Research Institute. In dieser Periode stand seine Zukunft als Architekt keineswegs fest. Er beschäftigte sich mit Malerei und vertiefte sich in sein literarisches Schaffen. Erst im Jahr 1993, nach dem Besuch einer Ausstellung eines ehemaligen Kommilitonen, wuchs sein Interesse für Architektur erneut. Denn Jiakun entdeckte, dass „die gebaute Umwelt als Medium des persönlichen Ausdrucks dienen kann“. Und, dass es möglich ist, von der vorgeschriebenen gesellschaftlichen Ästhetik abzuweichen.

„Ich strebe immer danach, wie Wasser zu sein – einen Ort zu durchdringen, ohne eine feste eigene Form mit sich zu tragen, und in die lokale Umgebung und den Ort selbst einzusickern. Mit der Zeit verfestigt sich das Wasser allmählich und verwandelt sich in Architektur und vielleicht sogar in die höchste Form menschlicher spiritueller Schöpfung“, betont Jiakun. Er gründete Jiakun Architects 1999 in Chengdu und hielt an der transzendenten Kraft der Architektur fest, während er gleichzeitig verstand, dass sie ein Produkt von Gemeinschaft, Spiritualität, Tradition und dem bereits Vorhandenen ist.

„Identität hat ebenso viel mit dem Individuum zu tun wie mit dem kollektiven Gefühl, zu einem Ort zu gehören. Liu Jiakun greift die chinesische Tradition ohne nostalgischen Ansatz oder Zweideutigkeit auf, sondern als Sprungbrett für Innovation“, heißt es in der Jury-Begründung. „Er schafft neue Architektur, die zugleich ein historisches Dokument, ein Stück Infrastruktur, eine Landschaft und ein bemerkenswerter öffentlicher Raum ist.“

Kultur, Geschichte, Natur

Im Laufe von vier Jahrzehnten hat Liu zusammen mit seinem Team mehr als dreißig Projekte realisiert, von akademischen und kulturellen Institutionen bis hin zu öffentlichen Räumen, Geschäftsgebäuden und Stadtplanungen in ganz China. Er wurde ausgewählt, den ersten Serpentine Pavilion Beijing (2018) zu entwerfen. In all seinen Werken zeigt Jiakun eine Ehrfurcht vor Kultur, Geschichte und Natur, indem er den Benutzern durch moderne Interpretationen klassischer chinesischer Architektur Vertrautheit vermittelt.

Die flachen Dachtraufen des Suzhou Museum of Imperial Kiln Brick (Suzhou, China, 2016) und die Fensterwände des Lancui Pavilion of Egret Gulf Wetland (Chengdu, China 2013) interpretieren die Jahrtausende alte Form von Pavillons neu. Die abgestuften Balkone des Novartis (Shanghai) Block – C6 (Shanghai, China, 2014) erinnern an Türme, die viele Dynastien repräsentieren. Das Luyeyuan Stone Sculpture Art Museum (Chengdu, China, 2002), das buddhistische Skulpturen und Reliquien beherbergt, ist einem traditionellen chinesischen Garten nachempfunden, der durch sein Gleichgewicht aus Wasser und alten Steinen die natürliche Landschaft widerspiegelt.

Rebirth Bricks

In der Überzeugung, dass die Beziehung des Menschen zur Natur wechselseitig ist, lösen sich Gebäude in ihrer Umgebung auf, wie zum Beispiel die Renovierung des Tianbao-Höhlenbezirks der Stadt Erlang (Luzhou, China, 2021), die in die üppige Klippenlandschaft des Tianbao-Bergs einbettet ist. In allen seinen Werken kommt einheimische und wilde Flora vor. So werden Ziegelsteine ​​umgedreht gepflastert, damit Gräser durch die Kernlöcher sprießen können, einheimische Bambushaine werden neu angepflanzt oder Fußböden und Decken mit Öffnungen versehen, damit die vorhandenen Bäume weiterwachsen können.

Jiakun lehnt industriell gefertigte Produkte ab, bevorzugt traditionelles Handwerk und verwendet oft rohe lokale Materialien. Das Gebäude des Department of Sculpture zeigt Details authentischer Sandputz-Handarbeit aus Chongqing, die sichtbar bleibt und nicht geschliffen wird. Er erweckt Materialien zu neuem Leben, indem er Trümmer aus den Ruinen des Erdbebens von Wenchuan 2008 recycelt und mit lokalen Weizenfasern und Zement verstärkt, um Ziegel herzustellen, die physikalisch und ökonomisch effizienter sind als die Originale. Die sogeannten „Rebirth Bricks“ sind überall im Novartis-Gebäude, im Shuijingfang-Museum (Chengdu, China, 2013) und im West Village, seinem größten Werk, zu finden.

Über sein Architekturverständnis sagt Jiakun: „Architektur sollte etwas offenbaren – sie sollte die inhärenten Qualitäten der Menschen vor Ort abstrahieren, destillieren und sichtbar machen. Sie hat die Macht, menschliches Verhalten zu formen und Atmosphären zu schaffen, die ein Gefühl von Gelassenheit und Poesie vermitteln, Mitgefühl und Barmherzigkeit hervorrufen und ein Gefühl der Gemeinschaft fördern.“

Liu Jiakun ist auch Literat und verleiht seiner Kreativität in zweifacher Form Ausdruck: „Romane zu schreiben und Architektur zu praktizieren, sind unterschiedliche Kunstformen, und ich habe nicht absichtlich versucht, die beiden zu kombinieren. Doch vielleicht besteht aufgrund meines doppelten Hintergrunds in meiner Arbeit eine inhärente Verbindung zwischen ihnen – wie die erzählerische Qualität und das Streben nach Poesie in meinen Entwürfen.“


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