Home Architecture Herbstlektüre: Von Anti-Funktionalismus und grafischer Welterklärung

Herbstlektüre: Von Anti-Funktionalismus und grafischer Welterklärung

von Caroline Wanderberg
Herbstlektüre auf formfaktor

Je stärker sich der Herbst bemerkbar macht, desto häufiger ziehen es Zeitgenossen*innen vor, den Abend oder mitunter ganze Wochenenden zuhause zu verbringen. Diejenigen, die nicht nur dem schlechten Wetter entkommen wollen, sondern auch dem Gefängnis der digital-elektronischen Dauerverbindung, können zum guten alten Buch greifen. Dieses Medium hat den kleinen oder großen Bildschirmen einiges voraus. Es liefert tiefgreifende, ausführliche Informationen und Gedanken sowie sorgfältig gedruckte Fotografien, Skizzen und Illustrationen. Schließlich sind es der Geruch des Papiers und die unschlagbare Haptik, wenn die Hand über den Umschlag streicht oder wie selbstverständlich umblättert, ohne dass der Finger ständig hin und her wischen muss, um den Text lesen zu können. Also auf zur Herbstlektüre und faszinierenden Einblicken in die Welten der Architektur, Kunst, Grafik und des Interieurs.

Im Lauf der Gestaltungsgeschichte gab es immer wieder Designer*innen, denen das Dogma des Funktionalismus gehörig auf den Nerv ging. Sie wollten sich nicht einschränken lassen und begehrten auf. In den 1980er Jahren taten dies die Mitglieder der Mailänder Gruppe Memphis. Von Ettore Sottsass gegründet, wurden Interieurobjekte neu, anders und vor allem sehr bunt interpretiert. Die Bewegung entstand während eines Treffens 1980, das Sottsass organisiert hatte und bei dem unter anderem Michele De Lucchi und Matteo Thun anwesend waren. Memphis stellt den Höhe- und Endpunkt des anti-funktionellen Designs in Italien dar, das seit den 60er Jahren die Doktrin von Form Follow Function oder less is more ablehnte. Waren auch der kommerzielle Erfolg sowie die aktive Zeit der Gruppe begrenzt (bis 1988), so war der Einfluss auf die Designwelt doch enorm und dauert bis heute an. Diesen Aspekt thematisiert Claire Bingham in ihrem Buch More is More. Sie will zeigen, wie die Memphis-Ästhetik die moderne Kreativszene beeinflusst hat. Das Werk zeigt Originale und zeitgenössische Designs Seite an Seite und verdeutlicht mit vielen Farbfotos, warum dieser Stil immer wieder für Aufsehen sorgte. More is More. Memphis, Maximalism, and New Wave Design. Claire Bingham. 22,3 x 28,7 cm, 192 S., Hardcover, 155 Farbfotos, Deutsch und Englisch. ISBN: 978-3-96171-203-8. Verlag: teNeues.

 

Wunderwelt der grafischen Gestaltung

Die Digitalisierung hat den Berufsstand des Illustrators nicht eliminiert, denn heute gibt es mehr Illustratoren als jemals zuvor. Ihre Fähigkeit mit einem Bild, Worte zu verstärken oder einen Sachverhalt sogar einprägsamer darzustellen als textliche Beschreibungen es können, ist vor allem in der gegenwärtigen Weltlage von enormer Wichtigkeit. Illustrationen sind in unterschiedlichsten Medien zu finden: auf Plakaten, Postern, Verpackungen, Kleidern, in Büchern und natürlich auch auf Bildschirmen. Der Band The Illustrator zeigt die Vielfalt, Unterschiedlichkeit und hohe Qualität zeitgenössischer Illustrationen. Auf 600 Seiten und mit vielen hochwertigen Abbildungen versammelt das Buch die „100 Besten“ der Szene. Von bekannten Namen wie Brad Holland bis zu aufstrebenden Künstlern wie Robin Eisenberg. Co-Herausgeber Julius Wiedemann schreibt im Vorwort: „Es ist noch nicht lange her – etwa 20 Jahre -, dass die Verbreitung der Kunst und des Handwerks der Illustration hauptsächlich auf Redaktion und Werbung beschränkt war. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert. Als ich Christoph Niemann, der das Cover dieses Buches gestaltet hat, bat, mir etwas über den heutigen Stand der Dinge zu sagen, schrieb er zurück: `Einer der Nebeneffekte des digitalen Zeitalters ist, dass es gezeigt hat, wie gut sich unser Publikum mit Visuellem auskennt, und kein Medium kann diese Erkenntnis so gut darstellen wie die Illustration.´“ Ohne Zweifel hat sich die Arbeit von Illustratoren verändert. Die Budgets mögen kleiner geworden sein, aber gleichzeitig hat sich durch die Digitalisierung ein neues, weites Feld der Betätigung sowohl für junge als auch etablierte Gestalter eröffnet. The Illustrator. 100 Best from around the World. Herausgeber: Steven Heller, Julius Wiedemann. 21 x 31,5 cm, Hardcover, 664 S., ISBN 978-3-8365-7336-8 (Deutsch, Englisch, Französisch). Verlag: TASCHEN.

 

Die Gestaltung von Infografiken liegt im Trend. Diese jahrhundertealte Form, um schwierige Sachverhalte verständlicher zu machen, lohnt einen genaueren Blick. Diesen gewährt die Publikation History of Information Graphics. Von mittelalterlichen Manuskripten bis zu bunten Druckgrafiken bietet dieser Band einen Querschnitt durch die visuelle Wissensvermittlung, mit über 400 Karten, Zeichnungen und Diagrammen. Die von Sandra Rendgen kuratierte Auswahl zeigt viele unbekannte Schätze, aber natürlich auch Meisterwerke wie die Weltkarte von Martin Waldseemüller, die Naturstudien Erich Haeckels oder den Netzplan der New Yorker U-Bahn von Massimo Vignelli und Bob Noorda. History of Information Graphics. Autorin: Sandra Rendgen, Herausgeber: Julius Wiedemann. 24,6 x 37,2 cm, Hardcover mit 6 Ausklappseiten, 462 S., ISBN 978-3-8365-6767-1 (Deutsch, Englisch, Französisch). Verlag: TASCHEN.

 

Noch immer im Bauhausjahr

Endspurt im Bauhausjahr. Die Vielfalt an Ausstellungen, Vorträgen und nicht zuletzt Büchern reflektiert den massiven Einfluss der Bauhaus-Bewegung, trotz der tourismuswirtschaftlichen Total-Ausschlachtung. Schon während der Weimarer Republik sowie auch nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in ganz Deutschland Orte der Architektur-Moderne, die von den Ideen des Bauhaus inspiriert waren. Das Buch Bauhaus 100. Orte der Moderne macht mit über 100 Bauwerken von 1900 bis heute den nachhaltigen Einfluss des Neuen Bauens nachvollziehbar. Die Gebäude werden auf über 300 Seiten mit Bildmaterial, Textbeiträgen, praktischen Hinweisen und Karten vorgestellt. „Mit den für dieses Reisebuch zusammengestellten Bauten, unserer Grand Tour der Moderne, wird gleichsam ein Netz über das Land geworfen, mit vielen Knotenpunkten, nicht nur in den Großstädten und nicht nur an den Orten, an denen das Bauhaus unmittelbar angesiedelt war, sondern auch an der Peripherie und abseits der großen Straßen“, schreiben die Herausgeber Wolfgang Holler, Annemarie Jaeggi und Claudia Perren der Bauhaus Kooperation Berlin Dessau Weimar. BAUHAUS 100. ORTE DER MODERNE. Hrsg. Bauhaus Kooperation Berlin Dessau Weimar, einführende Essays von Werner Durth, Wolfgang Pehnt, Gestaltung von Heimann und Schwantes. 13,50 x 26,50 cm, gebunden, 320 S., 500 Abb., Deutsch, 2019. ISBN 978-3-7757-4613-7. Verlag: Hatje Cantz.

 

Ludwig Mies van der Rohe ist ein Gigant in der Geschichte des Bauwesens und hat naturgemäß viele Architekten*innen beeinflusst. Doch der Architekt war weit über die eigene Profession hinaus ein Vorbild und Fixstern in der kritischen Auseinandersetzung mit moderner Architektur. Der Band Almost Nothing versammelt 100 internationale Kreative, großteils Künstler, die sich mit dem Werk van der Rohes auf unterschiedlichste Weise beschäftigen. In Kunstwerken reflektieren Maler*innen, Bildhauer*innen, Fotografen*innen, Filmemacher*innen, Designer*innen, Karikaturisten*innen und ja auch Architekten*innen über Bauten, Entwürfe und Aussagen des berühmten Architekten. Autor und Architekt Christian Bjone liefert dazu Hintergrundinformationen. Almost Nothing. 100 Artists Comment on the Work of Mies van der Rohe. Christian Bjone. 21,5 x 28 cm, gebunden, 240 S., 147 farbe u. 68 S/W-Abb., ISBN 978-3-03860-080-8. Verlag: Park Books.

 

Berg, Industrie und Kunsthandwerk

Der Mensch hat fast jeden Winkel des Erdballs vereinnahmt. Auch Berglandschaften bilden hier keine Ausnahme. Im Gegenteil, je mehr die Menschen in die lauten Städte ziehen, sehnen sie sich nach Ausgleich und Ruhe fernab davon. Das Buch Hohe Häuser spricht deshalb auch „Vom Glück, in den Bergen zu wohnen“. Wolfram Putz, Mitgründer des Architekturbüros GRAFT hat gemeinsam mit seiner Frau, der Dokumentarfilmerin Maria Seifert und dem Designer Peter Feierabend individuelle Domizile hoch oben aufgespürt und einige außergewöhnliche Beispiele fürs Bauen am Berg ausgewählt. Nicola Borgmann schreibt im Vorwort: „Dieses Buch versammelt Bauwerke, die sich in besonderer Weise mit ihrem Standort auseinandersetzen. Fast alle Bauten und Ensembles stehen an exponierten Orten, in Alleinlage, hoch über den Tälern, dem Alltag, dem Lärm und der Enge, mit dem weiten Blick in die Berge. Oft führt der Wunsch, die Aussicht zu optimieren und den konstruktiven Herausforderungen des Standorts gerecht zu werden, zu spektakulären Lösungen.“ Hohe Häuser. Vom Glück, in den Bergen zu Wohnen. Maria Seifert, Wolfram Putz & Peter Feierabend. Mit Beiträgen von Nora Zerelli und einem Vorwort von Nicola Borgmann. 22,3 x 28,7 cm, Hardcover, ca. 192 S., ca. 150 Farbfotos, Deutsch. ISBN: 978-3-96171-204-5. Erscheint im Oktober bei teNeues.

 

Albert Kahn prägte die Industriearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts vor allem in den USA und hatte damit Anteil am Aufstieg der Vereinigten Staaten. Dieses Jahr wäre Kahn 150 Jahre alt geworden, was den Anlass für Prof. Dr. Thorsen Bürklin und Prof. Jürgen Reichardt vom Fachbereich Architektur der FH Münster, der Münster School of Architecture (MSA) bot, um ihm ein Buch zu widmen. Ein weiterer Grund, etwas über den deutschstämmigen amerikanischen Architekten zu veröffentlichen, ist der Umstand, dass „seine enormen Leistungen im Bereich des Industriebaus heutzutage wenig bekannt sind“, meinen die Herausgeber. Kahn entwarf auch zahlreiche Repräsentations- und Verwaltungsgebäude, Theater, Wohnhäuser und Villen, wo er eher eine traditionelle Architektursprache verfolgte mit neoklassizistischen Stilelementen. Modern und fortschrittlich hingegen waren seine Fabrik- und Montagehallen. Ganz den Anforderungen der industriellen Massenproduktion entsprechend, herrschten hier Reduktion, Einfachheit und Effizienz vor. Albert Kahns Industriearchitektur. Form Follows Performance. Hrsg. v. Thorsten Bürklin und Jürgen Reichardt. 24,5 x 33,5 cm, gebunden, 261 S., 125 farbige Abb., 50 S/W-Abb., Englisch, ISBN: 978-3-0356-1809-9. Verlag: Birkhäuser.

 

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre baute Richard Meier ein maßgeschneidertes Haus für die bemerkenswerte Kunsthandwerks- und Designsammlung von Sandra und Louis Grotta. Das „Grotta House“ liegt inmitten einer sieben Hektar großen Landidylle in Harding Township, New Jersey. Das Haus setzt einen starken architektonischen Akzent in die Naturumgebung und harmoniert dennoch, wie es beim Aufeinandertreffen zweier sehr unterschiedlicher, aber jeweils sehr schöner Dinge passieren kann. Die Publikation The Grotta Home by Richard Meier zeigt mit den Fotografien von Tom Grotta diese außergewöhnliche Sammlung erstmals einer breiteren Öffentlichkeit und veranschaulicht gleichzeitig die Architektur Meiers. Geschwungene und gerade Formen und Flächen werden zu einem abwechslungsreichen Baukörper kombiniert. Viele große Fensterflächen schaffen eine Verbindung von innen und außen und damit auch von den Objekten der Sammlung zur umgebenden Natur. Die Architektur erlaubt zahlreiche, unterschiedliche Perspektiven, Ein- und Durchblicke. Die Sammlung beinhaltet etwa Möbel von Edgar und Joyce Anderson, skandinavische Designklassiker von Ky Bojesen oder Textilarbeiten von Jack Lenor Larsen sowie Keramiken von Toshiko Takaezu und Schmuckobjekte von Otto Künzli und Tone Vigeland. Louis Grotta und Richard Meier wahren übrigens Kindheitsfreunde, die sich in den frühen 80er Jahren wiedertrafen und dann gemeinsam über fünf Jahre lang an dem Haus arbeiteten. THE GROTTA HOME BY RICHARD MEIER. A Marriage of Architecture and Craft. Hrsg. u. Fotos: Tom Grotta. Mit Beiträgen von Glenn Adamson, Matthew Drutt, Sheila Hicks, Joseph Giovannini, Louis Grotta, Jack Lenor Larsen, John McQueen, Richard Meier, Wendy Ramshaw und David Watkins. 28 x 30 cm, Hardcover, 336 S., 232 Abb., Englisch, ISBN 978-3-89790-568-9. Verlag: arnoldsche ART PUBLISHERS.

 

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