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Future Food: Flechten essen mit Julia Schwarz

von Markus Schraml
Flechten essen mit Julia Schwarz

Die Rolle des Designs in Zukunftsfragen rückt immer stärker in den Vordergrund. Design Thinking ist in aller Munde und die Erwartungen, mit dieser offenen Methodik Problemen wie Massenkonsum, Ressourcenverbrauch und Klimawandel erfolgreich zu begegnen, sind groß. Ein Thema ist die drohende Nahrungsmittelknappheit aufgrund der Klimaerwärmung. Manche Prognosen sehen diese Gefahr bereits in weniger als zwei Jahrzehnten auf uns zukommen. Das Projekt „Unseen Edible“ von Julia Schwarz beschäftigt sich genau damit und hat als zukünftige und zukunftsfähige neue Nahrungsquelle die Flechte erforscht. Für ihre Diplomarbeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien hat sie die Essbarkeit von Flechten auch reell getestet, Lebensmittel daraus hergestellt und damit große Aufmerksamkeit unter anderem bei der Dutch Design Week auf sich gezogen.

Die Triathletin Julia Schwarz, die bei Icon Design 100 als eine der einflussreichsten Designerinnen für 2019 gelistet ist und im The Future 100 Report in den TOP 10 im food & drink-Bereich geführt wird, verfolgt einen Designansatz, bei dem das Hauptaugenmerk auf ein Zusammenspiel von Wissenschaft und Design liegt. Bereiche wie Design Investigations, Critical Design oder spekulatives Design spielen eine große Rolle. formfaktor traf Julia Schwarz in einem Wiener Innenstadtcafé zum Gespräch, zu dem die junge Designerin einige Proben mitbrachte, um Redakteur Markus Schraml auch gustatorisch von der Flechte zu überzeugen.

formfaktor: Wie sind Sie auf die Flechte gekommen?

Julia Schwarz: Es hat sich aus verschiedenen Komponenten ergeben. Ich bekam eine Studie in die Hände, in der stand, dass es schon 2037 zu derart großen Ernteausfällen kommen wird, dass es mehr Menschen als Nahrung gibt. Das war irgendwie der Startpunkt. Zuerst ging ich in die Algenrichtung und zu den Pilzen. Es gibt ja dieses Spektrum von Notnahrung und ich habe mich schlaugemacht, was Menschen in Notsituationen gegessen haben. Dabei bin ich über die Flechte wirklich sozusagen gestolpert. Ich wusste schon, dass es Moose und Flechten gibt, aber nichts Spezifischeres über die Flechte. Ich bin viel in der Natur unterwegs – vom Sport her – und dabei habe ich am Berg eine Gruppe Moosologen getroffen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich den genauen Unterschied zwischen Moos und Flechte noch nicht. Durch meine Studien wusste ich zwar, dass Flechten in der Not gegessen wurden, aber nichts über den tatsächlichen Nährwert. Moos hat nämlich keinen, hat mir ein Professor von der Boku erklärt. Und so bin ich auf die Flechte gekommen und bin immer weiter in die Materie eingetaucht. Flechten wurden zum Beispiel auch in der Medizin verwendet. Ich habe dann weltweit mit Flechtologen Kontakt gesucht, denn in Österreich gibt es kaum welche. Den einen, denn es gibt, der war damals in der Antarktis.

In einem schwedischen Buch aus dem Jahr 1819 ging es um die Islandflechte und wie man sie in die Nahrung implementieren könnte. Dort stand, sie sei extrem bitter und nur zur Not genießbar. Forscher kamen später aber dahinter, dass die Flechte extrem viele Nährwerte hat, und sie wird auch in der Medizin angewendet, sogar in der Krebstherapie. Die Flechte hat sehr viele Eigenschaften. Was für mich der springende Punkt war, um weiterzuforschen, war die Tatsache, dass sich Flechten, wenn andere Pflanzen verschwinden und streben, noch mehr ausbreiten. Wenn zum Beispiel ein Gletscher schmilzt, ist das der erste Organismus, der wachsen kann. Oder nach einem Atomunfall. Dieses Potenzial der extremen Überlebensfähigkeit und die vielen enthaltenen Nährstoffe und Mineralien waren für mich interessant, um dabei zu bleiben. Das war dann auch meine Diplomarbeit in „Design Investigations“ an der Angewandten. Ein paar Mal sah ich das Projekt schon an der Kippe, weil die Antworten der Flechtologen oft lange gebraucht haben, wo es darum ging, ob das und das überhaupt essbar ist. Aber dieser Prozess war auch sehr spannend: Wie kann ich das essen? Was kann ich probieren?

formfaktor: Sie sind an experimentellem Kochen interessiert. Hat das eine Rolle bei dieser Arbeit gespielt?

(lacht) Das hat sich eigentlich daraus entwickelt. Es hieß, man kann es essen, aber es wird nicht schmecken.

formfaktor: Und wie schmeckt es jetzt tatsächlich?

Man kann es so eigentlich nicht essen. Es ist wie Gras. Man muss es in kaltes Wasser einlegen, damit sich die Karbonate aufspalten. Das hier ist zum Beispiel gebraten und gesalzen (öffnet eines der mitgebrachten Gläser. Anm.) und das können Sie jetzt probieren.

formfaktor: Soll ich es wirklich probieren?

JA. Da sind verschiedene Flechten dabei. Eine mallorquinische zum Beispiel. Das ist jetzt wirklich pur. Man kann es aber zum Beispiel zu Süßspeisen geben oder in Aufstriche – dann merkt man die Flechte überhaupt nicht. Oder in Senf. Die Leute, die das probieren, sagen, man merkt es nicht, nur ein leicht bitterer Geschmack – aber angenehm.

formfaktor (die Flechte kauend): Es heißt ja, Bitterstoffe seien gut. Also – bis zu einem gewissen Grad.

Im angesetzten Schnaps merkt man den extremen Bittergeschmack schon, aber es stört nicht. Wir haben auch Gin gemacht und durch das Brennen ging das Bittere total weg.

formfaktor: Nun ja, der Nachgeschmack ist ein bisschen bitter? Ich kann mir gut vorstellen, dass es in Verbindung mit anderen Lebensmitteln funktioniert.

In Kombination mit Beeren ist es auch recht schmackhaft.

formfaktor: Wie geht das Flechten-Projekt jetzt weiter?

Das ist eine gute Frage, weil die Produktlinie war zuerst fiktiv, um zu zeigen, wie das ausschauen könnte. Aber dann gab es auch tatsächliche Produkte. Bei den Gurken war ich im Zwiespalt, ob das nicht ein Luxusprodukt ist, aber andererseits ist es etwas Eingelegtes, hält also lange. Oder die Getreideprodukte. Um es im Video zeigen zu können, hat das Ganze ein Label gebraucht. Auf alle Fälle ist die Nachfrage wirklich hoch. (lacht) Flechten sind ja kein richtiges Lebensmittel bis jetzt. Im Unterschied zu Insekten und Algen. Man darf also keine Flechten-Produkte zum Essen verkaufen. Da müssen erst Richtlinien erstellt werden und dazu sind viele Tests notwendig. Was wir jetzt machen sind „Lichen Experiences“, wo man Flechten verkosten kann. Dort gibt es einen Koch, der sie zubereitet. Auch Workshops sind geplant, – einige habe ich schon gemacht – wo es darum geht, wie kann ich das überhaupt zubereiten. Facts, Diskussion darüber, wie sich die Flechte entwickeln wird. Das ist zumindest in der Designszene ein großes Thema. In diese Richtung geht es im Moment. Und viele Kollaborationen sind am Start – in Richtung Future Food und Post-apocaliptic Food. Daran arbeite ich gerade.

formfaktor: Sie haben vor kurzem Ihr Studium an der Angewandten abgeschlossen. Wie geht es generell jetzt bei Ihnen weiter?

Es geht ganz sicher in dieses Spektrum des Post-apocaliptic Food, mit einem Hauptaugenmerk auf der Flechte. Aber in einem größeren Netzwerk, das man aufbauen muss. Von den Produkten her, wissen wir noch nicht genau, wie wir das machen. Aber in jedem Fall wird es weiter Workshops und Experience Dinners geben. Weil die meisten Leute noch keine Flechten gegessen haben, ist es eben ein großes Erlebnis. Wie ich in den Niederlanden gesehen habe, geht das ganz gut. Allerdings ist die nächste Frage der Teilnehmer*innen dann immer: Wo kann ich das kaufen? Was ich auf jeden Fall machen werde, ist, meine ganze Forschung niederzuschreiben. Es gibt ja den Film darüber, aber noch nichts Schriftliches.

formfaktor: Ihre Diplomarbeit bestand im Wesentlichen aus dieser fiktionalen Dokumentation „Unseen Edible“. Aber Sie hatten schon früher und in fast allen Projekten das Medium Video verwendet. Warum?

Erstens liegt mir das am besten und zweitens bringt es das Ganze visuell einfach am besten rüber. Für das „Unseen Edible“-Projekt habe ich das ganz bewusst gewählt, weil ich einen riesigen Berg an Informationen, an Materialien hatte, durch den Kontakt mit den Flechtologen. Um das entsprechend zu vermitteln, wählte ich das Medium der docu-fiction. Das ist glaubwürdig, aber auch fiktional, weil vieles einfach noch nicht so ist, aber anhand der Fakten, die ich hatte, sich in diese Richtung weiterentwickeln könnte. Und mit den Produkten ist es ja auch wirklich so passiert.

formfaktor: Sie waren in den letzten Monaten, viel in Sachen Flechte unterwegs. Letztes Jahr bei der Vienna Design Week, der Dutch Design Week und jüngst beim EAT Festival oder bei Diskussionen über die Zukunft des Essens. Wo sehen Sie allgemein die Zukunft der Ernährung – mal abgesehen von der Flechte?

Es wird viel auf die kulturellen Aspekte zurückgegriffen, was auch bei den Flechten ein Punkt ist. Vertical Gardening macht natürlich Sinn, weil man vom Boden weggeht, der sowieso voll mit Nitraten ist. Es wird viel um Algen, Insekten und Pilze gehen. Es gibt zum Beispiel ein Projekt im Waldviertel, wo Baumstämme geimpft werden und dann kann man darauf Pilze züchten. Also da gibt es schon einiges in dieser Richtung. Ein riesiges Thema ist auch das Fermentieren, um Dinge haltbar zu machen und neue Geschmäcker zu kreieren. Das war auch das Spannende an den Flechten: Ich hatte den Geschmack davor noch nicht erlebt. Es gibt ja verschiedene Flechtenarten, über 20.000 und die schmecken alle recht unterschiedlich. Von erdig über algig bis zu pilzig oder nach Wald.

formfaktor: Ihr Flechten-Projekt, aber auch andere Projekte während Ihres Studiums wurden von Ihnen oft in Zusammenhang mit Wissenschaft oder Wissenschaftlern umgesetzt. Ist das ein Weg, den sich auch in Zukunft gehen möchten? Design und Wissenschaft.

Auf der Uni haben wir immer an dieser Schnittstelle gearbeitet. Da ging viel in Richtung Speculative Design, Critical Design von Fiona Raby und Anthony Dunne und jetzt Anab Jain mit ihrem Londoner Studio Superflux, die schon sehr viele Zukunftsrichtungen aufzeigt. Das finde ich wahnsinnig spannend auch deshalb, weil in der Wissenschaft viel niedergeschrieben wird, hochkomplexe Dinge und ich finde schon, dass Design einen guten Ansatz bietet, das runterzubrechen, indem man die Fakten visuell darstellt. Eine Flechtologin aus Portugal hat mir geschrieben, dass sie fürchtet, dass mein Film, das so realistisch darstellen würde, dass die Menschen beginnen werden, überall die Flechten abzuernten. (lacht) Das glaube ich nicht, denn das ist nicht ganz so einfach und außerdem ist die Biomasse sehr hoch. Es gibt weltweit extrem viele Flechten. Sie sagte dann aber auch, dass sie sich wünschen würde, dass Wissenschaftler mehr mit Designern zusammenarbeiten, damit man ein besseres Bild bekommt. Weil es bisher eben nicht so ist.

formfaktor: Aber es gibt immer mehr Designerinnen, die in diese Richtung arbeiten.

Ja, in Wien gibt es da schon einige. Und speziell auch in Eindhoven. Dort gibt es viel Design Research.

formfaktor: Bei Diskussionen über die Zukunft, tritt Design immer stärker in den Vordergrund. Ganz fokussiert zeigt sich das derzeit bei der Vienna Biennale. Können Designer in Bezug auf andere Lebensweisen, oder bei der Lösung von Problemen wichtige Rollen spielen?

Das finde ich schon, weil wir an der Uni gelernt haben, die Dinge einfach herunterzubrechen. Wissenschaftler können das nicht so gut visuell darstellen. Aber Filme oder Ausstellungen, wie jetzt im MAK, können, glaube ich, helfen, Meinungen bei den Menschen zu ändern. User Experience Design bezieht sich normalerweise auf Websites, aber für mich ist das schon immer viel mehr. Wie eben im Ausstellungsformat, wenn man das sieht und wo das Angreifbare eine viel größere Rolle spielt, die Interaktionen. Man kann dabei eine Spannung aufbauen.

formfaktor: Sind Sie mit der Ausbildung an der Angewandten zufrieden?

Schon. Im Großen und Ganzen Ja. Es war sehr breit gefächert. Was fehlt, ist dieser wirtschaftliche Aspekt.

formfaktor: Sie haben sehr viele Projekte während Ihres Studiums gemacht? Ich denke an die Regenwürmervermehrung oder wie Sie aus Urin Kosmetik gemacht haben.

Ja, das war natürlich extrem. Aber man kann eben anhand von Harn den Gesundheitsstatus nachweisen. Die Regenwürmer waren auch sehr spannend. Da habe ich über 3, 4 Monate hinweg, die Regenwürmer in einem Glaskasten beobachtet, wie sie sich vermehren, in welchem Boden sie sich am wohlsten fühlen, was sie fressen.

formfaktor: Dieses Projekt ist ja in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Themen wie Stickstoffbelastung der Böden, Bodenversiegelung generell – alles wird immer mehr zubetoniert – spielen hier rein.

Ja, total. Und diese Projekte passieren immer in Zusammenarbeit mit Experten. Das ist dann schon eine Herausforderung, diese Leute überhaupt zu bekommen. Aber meistens passt es, weil es auch für die Forscher interessant ist, einmal eine andere Perspektive zu sehen.

formfaktor: In ihren Projekten greifen Sie problematische Themen wie Überbevölkerung, Nahrungsknappheit und Klima-Extreme auf. Das heißt, Sie versuchen, aktuelle Problemstellungen wirklich anzugehen. Wie sehen Sie die Zukunft? Visionen?

Visionen – das ist eine ausgesprochen große Frage. Wenn ich jetzt nochmal auf „Unseen Edible“ zurückkomme, ist es schon so, dass ich – nachdem ich fertig war – es dabei belassen wollte. Aber weil ich immer wieder in dieses Thema hineingeholt werde, zum Beispiel mit den Produktanfragen, steckt da noch mehr drin. Wenn man sieht, wie Massenkonsumgüter im Überfluss daherkommen, finde ich es spannend, Menschen auf neue Dinge zu bringen, damit sie sich neue Meinungen bilden können. Auch dieses leicht Provokative gefällt mir. Das ist natürlich bei der Flechte urleicht. Natürlich besteht immer noch ein Unterschied zwischen Design und Kunst, obwohl auf der Angewandten ist man da doch etwas näher dran. Design Investigations, Speculative Design ist in London schon recht groß – auch unsere Professorinnen Anab Jain und Fiona Raby arbeiten ja dort, aber es ist trotzdem noch etwas komplett Neues. Man muss schon selbst etwas daraus machen. Man muss es erst aufbauen. Und das, finde ich, ist eine sehr große Challenge. Ich mache auch Produktdesign im herkömmlichen Sinn, was durch Material Research spannend ist. Für mich ist das ästhetische Merkmal aber nur das kleine Extra – in den meisten Fällen. Generell finde ich die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern viel spannender. Ich möchte mich allerdings nicht auf diesen Zukunfts-Essensbereich festlegen – nicht ausschließlich.

formfaktor: Elon Musk will ja schon 2024 Menschen auf den Mars bringen. Da kann er ja vielleicht Flechten brauchen?

(lacht) Ja, aber es ist wirklich so, dass sie dort überleben könnten – ohne Manipulation zumindest für zwei Wochen.

formfaktor: Vielen Dank für das Gespräch

Health Indication – Ein Soloprojekt von Julia Schwarz. Der Harn spiegelt den gesunden oder ungesunden Lebensstil wider.

Anmerkung: Im Anschluss an das Gespräch probierte der Redakteur auch den von Julia Schwarz mitgebrachten Flechten-Schnaps. Urteil: mild und stark zugleich.

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