Home Architecture Plädoyer für die Gestaltung des Zwischenraums

Plädoyer für die Gestaltung des Zwischenraums

von Markus Schraml
Atlas des Dazwischenraums

2019 erschien das Buch „Vokabular des Zwischenraums“, herausgegeben von der Hochschule Luzern, in dem das Thema der Gestaltungsmöglichkeiten in dichten Wohngebieten aufgegriffen und der Raum zwischen den Häusern in den Fokus gestellt wurde. Diesen Bereich definierte das interdisziplinäre Forschungsteam unter der Leitung von Angelika Juppien und Richard Zemp als erweiterten Fassadenraum, der die Gebäudehülle, den Zwischenraum bis zur gegenüberliegenden Fassade sowie die dahinterliegenden Innenräume umfasst. Nun ist bei Park Books der Folgeband „Atlas des Dazwischenwohnens“ erschienen. Stellte das Vorgängerbuch die inhaltliche Aufarbeitung des Themas anhand der Untersuchung von Wohnquartieren dar, gehen die Autoren im „Atlas“ noch mehr in die Tiefe und präsentieren sechs Fallstudien aus der Schweiz und Deutschland, Beispiele für das Leben jenseits der Türschwellen.

Der „Atlas des Dazwischenwohnens“ ist ein Werkzeug für Profis, der Unterstützung bieten will bei der Erweiterung des Wohnraums in den Bereichen der (angeeigneten) Übergangszonen von privat zu öffentlich. In ihrem Vorwort stellen Olaf Schnur und Stephanie Weiss zehn Thesen auf, warum das Dazwischenwohnen wichtig ist. Sie bezeichnen es als essenziell, um „eine Weltbeziehung herstellen zu können und Resonanz zu spüren“. Es sei außerdem eine Möglichkeit, sich im Lokalen, in der Nachbarschaft zu verankern und damit der Entwurzelung im Globalen etwas entgegenzusetzen.

Laut Definition der Autoren reicht der Dazwischenraum bis zur gegenüberliegenden Straßenseite. Um individuelle Nutzungen wieder möglich zu machen, sollten allzu strenge Reglementierungen vermieden werden. © Richard Zemp

Wie wir wohnen

Im Zuge ihrer Studie suchten Angelika Juppien und Richard Zemp die Bewohner auf und stellten ihnen Fragen nach ihrer ganz persönlichen Sicht auf das Thema Wohnqualität. Wo beginnt das Wohnen? Erst hinter der Türwelle, im Treppenhaus oder schon vor der Haustür? Dabei gehen die Autoren über eine rein nüchtern-sachliche Beschreibung hinaus und beschäftigen sich vor allem mit den emotionalen Aspekten des Dazwischenwohnens. Was macht einen Ort zu einem geliebten Ort, einem Ort, an dem sich die Menschen gerne aufhalten. Diese Thematik wissenschaftlich zu erfassen, ist schwierig und den Autoren gebührt großes Lob, dass sie es versucht haben.

Diesem Ansatz entsprechen auch Kapitelüberschriften wie „Abenteuer“, „Landnahme“, „Zauber“ oder „Tapetenwechsel“. Denn zentral ist die Frage nach den Bedürfnissen, nach einem Abenteuer auf der anderen Straßenseite oder der Landnahme durch Umdeutung des Vorhandenen, etwa durch Personalisierung des Raums vor der Wohnungstür. Wobei die Autoren über den konkreten Begriff des Dazwischenwohnens weit hinausgehen. So gesehen beschreiben Worte wie Aneignung, Identität, Begegnung, Mitmachen oder schlicht Wohnumfeld den Untersuchungsgegenstand genauer.

Regelmäßige Treffen der Nachbarn und auch gemeinsames Essen und Feiern erhöhen das Gemeinschaftsgefühl. © Angelika Juppien

Für die sechs Fallstudien besuchten die Wissenschaftler Wohnanlagen in Zürich, Luzern, Berlin, Teltow und Uster. Diese lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Einerseits werden Räume rund um das Wohnhaus herum einfach deshalb massiv genutzt, weil die eigenen vier Wände eine sehr geringe Wohnfläche aufweisen, andererseits wurden Beispiele aus den 1990er-Jahren ausgewählt, bei denen Elemente der Kommunikation, Selbstverwaltung oder kollektive Nutzungsangebote mit eingeplant wurden. In beiden Fällen zeigt sich, dass Orte außerhalb der eigenen Wohnung sowohl für individuelle Zwecke als auch gemeinschaftliche Aktivitäten genutzt werden – sei es informell und geduldet oder offiziell und vertraglich festgelegt.

Treppenhäuser werden leichter bewohnbar, wenn dies bereits im Konzept vorgesehen oder zumindest nicht ausgeschlossen ist.
Gegenseite Toleranz der Wohnenden spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. © Angelika Juppien

Die Aneignung von Mehrraum

Schön und erhellend ist der Teil des Buches, in dem die Wohnenden zu Wort kommen. Mithilfe selbst gemachter Polaroid-Fotos erzählen sie von ihren Lieblingsorten, wobei die Kommentare dazu einiges über das Leben der Menschen aussagen. Sei es der Hofgarten als privater Spielplatz oder der Vorplatz, wo Fahrräder repariert werden. Sei es die Möglichkeit des Grillierens vor dem Gemeinschaftsraum oder der Gemüsegarten als Kommunikationszone. Im Wesentlichen erfüllen Dazwischenräume zwei Funktionen: Sie bieten Orte, für die in der eigenen Wohnung kein Platz ist, etwa der Schuhschrank vor der Wohnungstür oder sie dienen der Gemeinschaft, dem Sich-Begegnen und Austauschen in der Nachbarschaft.

Der „Atlas des Dazwischenwohnens“ soll dazu anregen, „die Türen zu öffnen und dem Wohnen im Dazwischen zu einer angemessenen Bedeutung zu verhelfen. Es geht also darum, ein Orientierungswissen für eigene (Wohn-)Erkundungen zu vermitteln. Dabei sind alle willkommen: Bauträgerschaften, Architektinnen und Architekten, Quartiersplanerinnen, Verwaltungen, Sozialarbeiterinnen, Bewohnerinnen und Bewohner“, schreiben Angelika Juppien und Richard Zemp. Praktischerweise enthält das Buch auch konkrete Erkundungs- und Analysetools für Dazwischenräume zum Ausfüllen.

Zwischenräume können vieles sein und nicht nur anonyme Orte des Übergangs vom Privaten zum Öffentlichen. Im Vorwort gehen Olaf Schnur und Stephanie Weiss sogar so weit, die Zwischenräume in Quartieren als „Keimzellen von bürgerschaftlicher Emanzipation und vielleicht sogar gesellschaftlicher Transformation“ zu beschreiben. Weit wichtiger erscheint jedoch der Begriff der Identifikation mit einem bestimmten Ort, wodurch er zum Zuhause, zur Heimat wird. Die Aneignung von Dazwischenräumen trägt dazu bei.

Wohnen findet nicht nur in der eigenen Wohnung, sondern auch um das Haus herum und auf der anderen Straßenseite statt – dieser Band geht den Wohnbedürfnissen jenseits der Türschwelle nach. © Park Books

ATLAS DES DAZWISCHENWOHNENS. Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle. Von Angelika Juppien u. Richard Zemp. Hrsg. v. d. Hochschule Luzern, Inst. f. Architektur (IAR) u. Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP). 1. Auflage, 2022, Broschur, 15 x 21 cm, 148 S., 79 farbige u. 7 SW-Abb. u. Grafiken. ISBN 978-3-03860-301-6. Verlag: Parks Books


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