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Zukunft gestalten – Melbourne Design Week 2021

von Markus Schraml
A New Normal, New Architecture

Die Melbourne Design Week (MDW) ist der größte Design-Event Australiens. 2017 vom Bundesstaat Victoria initiiert und durchgeführt von der National Gallery of Victoria bot die Veranstaltung 2021 zwischen 26. März und 5. April über 300 Ausstellungen, Talks, Touren, Workshops und Filme. Da derzeit die Pandemie in Victoria kein großes Thema mehr ist (die Neuinfektionen liegen bei 0, aktuell ist eine einzige Person an COVID erkrankt – bei 6,6 Millionen Einwohnern), konnten die einzelnen Programmpunkte ohne Einschränkungen mit Vorort-Publikum stattfinden.

Das Motto der MDW 2021 lautete „Design the world you want“ (Gestalte die Welt, die du willst). Damit sollte das Potenzial von Design in Bezug auf die drängendsten Fragen der Zeit ausgelotet werden. Wie kann Design helfen, eine bessere Zukunft zu gestalten? Zentrale Schwerpunkte waren Klimakrise, Ernährungskrise, nachhaltige Stadtentwicklung und Wohnbau.

Nachhaltige Lebensbedingungen

Laut einer Prognose wird Melbourne in den kommenden Jahren Sydney als größte Stadt Australiens überholen. Dieser enorme Bevölkerungszuwachs (500.000 Menschen in nur vier Jahren) stellt die Stadt vor große Herausforderungen im Hinblick auf die Wohnsituation. Die Frage lautet, wie können immer mehr Menschen nebeneinander und miteinander auf nachhaltige, innovative und leistbare Weise leben. Genau diesem Thema widmete sich die Ausstellung „Home Made: Reinventing How We Live in Melbourne“. Dieser Blick auf die letzten 10 Jahre Wohnbau in Melbourne stellte gemeinschaftliche, nachhaltige Modelle des Wohnens vor und thematisierte gleichzeitig ihre weitere Entwicklung in einer post-pandemischen Zukunft.

Kurator Alexis Kalagas, der auch Leiter der Urban Strategy-Abteilung bei Relative Projects ist, sagte, dass der 112 Tage dauernde Lockdown im Jahr 2020 zu einer Neubewertung geführt habe, wie Gestaltung und Lage unserer Wohnungen zu Komfort und Gemeinschaft betragen können. COVID habe dazu geführt, dass bisher in der Breite kaum wahrgenommene neue Konzepte gemeinschaftlicher Wohnmodelle erst richtig zur Geltung kamen und ihnen wie zum Beispiel den Nightingale Apartments mehr Beachtung geschenkt wurde.

Weniger ist mehr: Das Nightingale Housing-Projekt in Melbourne setzt Schwerpunkte, die auf nachhaltiges und gesundes Wohnen ausgerichtet sind. © Foto: Peter Clarke

Für „Home Made“-Co-Kuratorin Katherine Sundermann (Associate Director bei MGS Architects) ist nun die Zeit gekommen, um über sogenannte „dignified densification“ (etwa: würdevolle Verdichtung) nachzudenken. Damit sind Wohneinheiten gemeint, die, obwohl sie klein sind, nichts an Komfort einbüßen. „In den 60er- und 70er-Jahren hat die öffentliche Hand Hochhäuser gebaut, um dem Migranten-Zustrom zu bewältigen. Danach gab es keinerlei Apartment-Entwicklungen bis zu den Lagerhaus-Umbauten in den 90ern und einigen ziemlich schrecklichen Wohnungen von Investoren in den 2010er-Jahren. Bis jetzt haben wir nicht wirklich über Apartment-Design nachgedacht, das ein angemessener Ersatz für das Einfamilienhaus sein kann und außerdem im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltig ist“, erläuterte Sundermann.

Die Ausstellung „Home Made“ kritisierte auch die schlechte Bauweise in der Vergangenheit sowohl in den Vororten als auch im Zentrum von Melbourne. Schlechte Isolation, extreme Abhängigkeit von Klimaanlage und Heizungssystemen, schlechtes natürliches Licht und Lüftungsmöglichkeiten – das sind die Eigenschaften / Gestaltungsfehler der modernen Investorenwohnungen, von denen es in Melbourne viel zu viele gibt. Für die „Home Made“-Kuratoren sind dies die schwarzen Löcher des Designs, die durch bessere Gestaltungen ersetzt werden müssen. Dabei dürfe es nicht um das schnelle Geld gehen, sondern um die Schaffung wirklich nachhaltiger Lebensbedingungen.

Autarkes Melbourne

Der Melbourne Design Week Award (gesponsert von Mercedes-Benz Australien) ging an die Ausstellung „A New Normal“. In 15 Installation versuchten Architekt*innen und Designer*innen sich eine nachhaltige, autarke Stadt Melbourne vorzustellen. Das Projekt begann 2019 während einer Dinner Party bei Ross Harding, an der eine Gruppe von Melbournes führenden Architekt*innen teilnahm. Das Ziel – die weltweit erste autarke Stadt kreieren. Um das zu erreichen, muss die Stadt von einer Konsumentin zur Produzentin werden. Für dieses Unterfangen gab es zwar einige Vorbilder, wie Tokelau in Neuseeland (1.411 Einwohner*innen), wo 100 % des Stroms solar erzeugt wird, oder das Ecovillage in Schottland (400 Einwohner*innen), wo Kreisläufe aus Energie, Essen und Wasser eingerichtet wurden, aber nichts in der Größe von Melbourne mit seinen über 5 Millionen Einwohner*innen.

Diese völlig andere Dimension verlangte nach Berechnungen, die Ross Harding, seines Zeichens Maschinenbauingenieur anstellte. „Wir sind der logische Verstand in einem unlogischen Prozess“, sagt er. „Wir haben zwei Jahre lang Berechnungen angestellt, die unser Projekt unterfüttern. Wir wollen das Konzept der autarken Stadt normalisieren, um es greifbarer, praktikabler, profitabel und attraktiv zu machen. Durch diese Zahlen haben wir gezeigt, dass es funktionieren kann.“ Einige Zahlen: Würden nur 1 % der Dachflächen von Melbourne zur Energieerzeugung verwendet, könnten damit 38 % des Bedarfs abgedeckt werden. 1,4 Milliarden Dollar könnte man einsparen, wenn die Zahl der Autos halbiert und der Rest elektrisch fahren würde. Melbourne in zehn Jahren 100 % autark zu machen, würde etwa 100 Milliarden Dollar kosten, so die Schätzung.

Doch was müsste getan werden, um eine Stadt völlig autark zu machen? Absolute Unabhängigkeit würde bedeuten, dass das gesamte benötigte Wasser gespeichert und gereinigt werden kann, dass die gesamte Energie selbst erzeugt und alle Abfälle verarbeitet würden. Eine solche Stadt könnte völlig klimaneutral und erneuerbar sein. Die Kosten für den Übergang würden sich in weniger als 10 Jahren amortisieren und rund 800.000 neue Jobs schaffen, kalkuliert Harding. Die Ausstellung „A New Normal“ sollte die Vorstellungskraft der Menschen erweitern und private Investoren von der Machbarkeit überzeugen. „Wir haben fünfzehn Projekte gestartet. Eines davon ist bereits finanziert und ich möchte, dass die anderen vierzehn bis Ende des Jahres ebenfalls unterstützt werden“, wünscht sich Harding.

Ernährungslösungen vom Meeresboden

Ein weiterer Schwerpunkt der MDW war dem Thema Ernährungskrise gewidmet. Mit Blick in die Zukunft ist die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln keineswegs auf Dauer gesichert. Bei einer Weltbevölkerung im Jahr 2050 von 9,1 Milliarden müsste sich die landwirtschaftliche Produktion um 70 % steigern. Dazu würden wir drei Erden benötigen. Deshalb haben einige Wissenschaftler*innen nach anderen Wegen gesucht und sind auf eine mögliche Lösung gestoßen: Seegras.

Seegras war Tausende Jahre lang eine Nahrungsquelle der Menschen. Heute jedoch ernten weltweit nur 35 Länder Algen und Seetang kommerziell. Deshalb will der Forscher und Künstler Lichen Kelp aus Melbourne Seegras als normale, herzhafte, vielfältige Nahrungsquelle (wieder) etablieren. Im Rahmen der MDW ließen sich eine Reihe weiterer Designer*innen vom Meeresboden inspirieren. Die Palette der Ansätze reicht von Keramik mit Algenglasur über Seetangfarmen bis hin zu gehobener Küche mit Algen.

CO2-negative Algen

Seegras wächst unglaublich schnell (einige Arten bis zu 30 cm pro Tag). Deshalb könnte es ein nachhaltiges Material für die Zukunft sein. Für Designerin Jessie French haben Algen ein noch weitaus größeres Potenzial. In ihrem Designstudio Other Matter arbeitet sie mit Biokunststoffen auf Algenbasis auf eine Weise, die möglicherweise sogar CO2-negativ ist. Durch die Verwendung von kohlenstoff-negativen Algen und die Kultivierung von Algen in Bioreaktoren können die Kohlenstoffemissionen unter das Verbrauchslevel gesenkt werden. In jahrelangen Experimenten hat French Prozesse und Rezepturen entwickelt, durch die sie wunderschöne Gegenstände aus Algen herstellen kann.

In jahrelangen Experimenten hat Designerin Jessie French Prozesse und Rezepturen entwickelt, durch die sie wunderschöne Gegenstände aus Algen herstellen kann. AD: Thalia Economo, Foto: Pier Carthew

Die MDW 2021 zeigte den Anspruch von Architekt*innen und Designer*innen aus Melbourne und Australien einen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten. Sei es, um Städte völlig neu zu denken oder neue Nahrungsmittelquellen zu finden. Ausgetretene berufliche Pfade wurden verlassen, um mutige Innovationen ins Leben zu rufen. Dies alles unter dem Banner der Erkenntnis, dass wir uns um unsere Welt kümmern müssen. Design kann ein Werkzeug und Katalysator für Veränderung sein.


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