Für die meisten Menschen sind sie ein No-Go, Fans betrachten sie hingegen als einzigartige, sehr persönliche Kunstform. Richtig, es geht um Tätowierungen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten stieg die Anzahl jener, die es angemessen, cool oder positiv verrucht finden, den eigenen Körper mit bildlichen Darstellungen auszustatten. Aber woher kommt das Tätowieren eigentlich? Aus welchen Beweggründen haben sich Menschen ursprünglich tätowieren lassen? Einer der best informierten Experten für die Geschichte des Tattoos heißt Henk Schiffmacher. Der Niederländer ist Tätowierkünstler, Historiker und vor allem Sammler von Originalzeichnungen (Flashs), Radierungen, Lithografien, Gemälden, Fotos, Tätowierinstrumenten und aller Art von Artefakten rund um das Thema Tattoos. Im Lauf von vierzig Jahren aus der ganzen Welt zusammengetragen, befinden sich darunter sehr seltene alte Flash Sheets von Meistern der frühen westlichen Tätowierung.
Im bei Taschen erschienen Band „TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher’s Private Collection“ wird das Lebenswerk des fanatischen Sammlers auf 700 Seiten ausführlich dokumentiert. Die Geschichte der Tattoos beginnt bei den Māori und den Inselbewohnern des Südpazifiks, führt über die alten Traditionen Japans bis hin zu den Ursprüngen der frühen westlichen Schule in Europa und den USA. In fünf Kapiteln werden über 200 Jahre Tätowiergeschichte erzählt. Schiffmachers eigener Lebensweg spielt dabei eine Hauptrolle, ist er doch auf das Engste mit einem unvergleichlichen Interesse am Tätowieren verbunden. „Tätowieren faszinierte mich, weil es dabei um die Macht der Bilder geht. Es ist eine einfache Sprache, eine sehr primitive Form der Kommunikation. Wir kennen das Kreuz, den Anker, das Herz. Sie sind einfach, aber sie erzählen dir etwas über die Person auf einem sehr direkten Weg“, schreibt Schiffmacher.
Tattoos sind der Rembrandt der armen Leute
Henk Schiffmacher
Das Buch zeigt intime Einblicke in das Leben der Tattoo-Künstler und die Tattoo-Szene, die lange Zeit eine Underground-Bewegung war und selbst heute noch für viele Menschen ein beunruhigendes Flair ausstrahlt. Der Ursprung des Tätowierens findet sich im pazifischen Raum und hat eine tiefe kulturhistorische Bedeutung. „Für mich sind die Tā moko (Māori-Tattoos) der Höhepunkt der Tattoo-Kunst. Das Tattoo erzählt deine Geschichte, von deiner Herkunft und deinen Taten. Tattoo leitet sich vom tahitianischen tatau ab, angelehnt an den Klang der Werkzeuge“, weiß Schiffmacher. Die Tätowierungen der Māori erzählten alles über eine Person – die Position innerhalb des Stammes, Vorfahren, Familie, Leben, Identität eines Menschen. Die Bedeutung solcher Tätowierungen kann gar nicht hoch genug angesetzt werden. Sie drückten nicht nur etwas über die Person selbst aus, sondern über die Geschichte einer ganzen Gesellschaft. Auch ästhetisch haben diese Tattoos eine völlig andere Ausstrahlung (und auch künstlerischen Wert) als die figurativen, vordergründigen Darstellungen auf der Haut der Seemänner des Westens. Obwohl diese auch auf den Ursprung im Pazifik zurückzuführen sind. Schon die ersten Seefahrer unter James Cook (ab 1768) brachten Tattoo-Illustrationen mit nach Hause oder waren selbst tätowiert.
Als Tätowierer und Tattoo-Historiker reiste Henk Schiffmacher auf den Spuren legendärer Tattoo-Künstler in die ganze Welt. Eine dieser Reisen führte in 1992 nach Borneo. Gemeinsam mit Anthony Kiedis (Sänger der Red Hot Chili Peppers, für die Schiffmacher das Cover zu „Blood Sugar Sex Magik“ gestaltet hatte) unternahm er diesen Trip, der offenbar sehr hart gewesen sein muss. „Wir wollten dieselbe Route nehmen wie der holländische Entdecker Anton Willem Nieuwenhuis 1904 in seinem Buch Quer durch Borneo – einem meiner Lieblingsbücher. Ich fand seine Karte und wollte in seine Fußstapfen treten. Was haben wir gefunden? Hauptsächlich uns selbst. Ich trat wortwörtlich in Unterhosen wieder aus dem Dschungel“, erinnert sich Schiffmacher. Übrigens tätowierte der Niederländer nicht nur die Red Hot Chili Peppers, sondern auch Kurt Cobain, Lady Gaga, Nina Hagen, Cypress Hill, die Ramones und Pearl Jam. Bereits zweimal (1994 und 2011) startete Schiffmacher ein Tattoo-Museum, aber jedes Mal musste er es aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten (die Immobilienpreise in Amsterdam sind enorm) wieder schließen. Doch die Sammlung mit über 40.000 Stücken ist trotz dieser Rückschläge vorhanden: „Diese Sammlung ist ein Denkmal für die alte Welt des Tätowierens, in die ich mich einst verliebte. Ob nun ein Drache im traditionellen japanischen Stil, Florence Nightingale oder ein Homeward Bound auf dem Arm eines Seemanns im Zweiten Weltkrieg – jedes Motiv hat seine eigene Geschichte, genau wie der Mensch, der es trägt“, betont Schiffmacher.
Die kulturhistorische Bedeutung von Tätowierungen bei indigenen Völkern des Südpazifiks und die Tattoo-Kultur im Westen unterscheiden sich erheblich. Einerseits waren sie in der Gesellschaft, dem Stamm tief verwurzelt, andererseits ist das Tattoo-Stechen im Westen eine sehr persönliche Angelegenheit und wird von der Gesellschaft teilweise nicht goutiert. Die Motivwelt der Tattoos blieb bis in die 1970er-Jahre der typischen Seefahrer-Ikonografie verhaftet. Mit gutem Willen kann es als populär-kulturelles Phänomen angesehen werden. Künstlerische Weiterentwicklungen, die das Gestaltungs-Dogma durchbrechen, sind in dem zeitlichen Rahmen, den Schiffmachers Buch steckt, (noch) nicht zu beobachten. Henk Schiffmacher ist von Tattoos in allen Spielvarianten fasziniert und dennoch betont er, dass die Tätowierungen beispielsweise der Māori einen ganz anderen Stellenwert besitzen. Nicht umsonst bereiste er die Länder des Ursprungs so intensiv. „Im Tätowieren – und das spiegeln diverse Kulturen wider – liegt eine spirituelle Kraft. Die Polynesier nennen sie Mana. Sie kann nur durch das Öffnen der Haut freigesetzt werden, durch das Heilen.“