Home Architecture Gebäude als Landschaften und die Ignoranz moderner Architektur

Gebäude als Landschaften und die Ignoranz moderner Architektur

von Markus Schraml

„Die Menschheit zerstört die Haut der Erde in einem bislang nie dagewesenen Ausmaß. Die Zeit ist reif für eine grundlegende Rückbesinnung“, sagt Bjarne Mastenbroek. Diese Erkenntnis war ihm so wichtig, dass er ein ganzes Buch darüber verfasst hat. „Dig it!“ ist dem Thema erdverbundene Baukultur gewidmet und bei Taschen erschienen. In dem 1400 Seiten starken Werk begibt sich Mastenbroek auf Spurensuche. Der niederländische Architekt beschäftigt sich seit Jahren mit der wechselseitigen Beziehung von Architektur und Umgebung. Er und sein Architekturbüro SeARCH sehen Gebäude als Landschaften, die sich in die jeweilige natürliche Situation einfügen sollen, ohne sie zu stören oder zu dominieren. „Dig it!“ liefert ein Stück Geschichte der Baukultur, die Mastenbroek mit zahlreichen Beispiele belegt, sowohl weltbekannte als auch fast vergessene. Um diesen architektonischen Reichtum bildlich entsprechend darzustellen, hat sich Mastenbroek mit dem renommierten Fotografen Iwan Baan zusammengetan. Gemeinsam arbeiteten sie ein ganzes Jahrzehnt daran.

Dieser voluminöse Band spannt den Bogen von antiken Bauwerken bis hin zu nachhaltigen Entwürfen der Gegenwart. Durch den Blick zurück wird klar, dass die Menschheit in ihrer Geschichte durchaus im Einklang mit der Natur bauen konnte. Zudem ist es ein Aufruf, die gegenwärtig vorherrschende Baupraxis zu überdenken. Denn in Zukunft werden sowohl im urbanen Raum als auch auf dem Land enorme Herausforderungen zutage treten, denen mit einem arrogant-kurzsichtigen Architekturansatz nicht begegnet werden kann.

Das Buch wurde von Mevis & Van Deursen gestaltet und enthält zahlreiche Essays, über 500 analytische Zeichnungen aus dem SeARCH-Büro, historische Aufnahmen, Grafiken und Grundrisse sowie vor allem Fotos von Iwan Baan. © TASCHEN

Die Wiederverbindung mit der Natur

„Dig it!“ beginnt mit einem Essay, der den sechs Strategien vorangestellt ist, die aufzeigen sollen, wie man Architektur mit Landschaft, Gebäude mit dem Boden wieder verbinden bzw. einfach umweltverträglicher bauen kann. Gleich zu Anfang legt der Autor seine fundierte Meinung unmissverständlich dar: „Das Verhältnis des Menschen zur Erde hat sich von der Symbiose über den Kommensalismus hin zum Parasitismus verschoben. Wir wurden vom Gast zum Stalker, zum Dieb und schließlich zum Killer.“ Um den Punkt festzumachen, an dem sich die Menschheit von der Natur abgewandt hat, holen Mastenbroek und Mitautorin Esther Mecredy weit aus, sehr weit und gehen zurück bis zum Beginn der Menschheitsgeschichte. Dabei stellen sie fest, dass die menschliche Existenzspanne zu 99 % von einer symbiotischen Beziehung zur Natur gekennzeichnet war. Mit der Einführung der Landwirtschaft jedoch wurde die Natur nicht mehr als Lebensraum gesehen, sondern als Ressource, die zum Verbrauch für die menschlichen Bedürfnisse ausgebeutet werden konnte. Das war der Beginn des CO2-Fußabdrucks.

Das Werk beinhaltet eine Vielzahl von Beispielen, wie erdverbunden / ökologisch gebaut werden kann. Sowohl historische Bauwerke aus vergangenen Jahrtausenden als auch zeitgenössische Gebäude kommen darin vor. Die Palette reicht von Bauten, die unter der Erdoberfläche angelegt wurden, wie die monolithischen Kirchen in Äthiopien bis zu umweltfreundlichen Bauwerken der letzten Jahre, wofür vor allem auch Projekte des Architekturbüros SeARCH selbst aufgeführt werden: etwa der Forest Tower (2004-2009), Isbjerget in Aarhus (Dänemark, 2008-2013) oder das Hotel Jakarta in Amsterdam (2014-2018). Allesamt Gebäude, in denen versucht wurde, an das jeweilige Projekt mit einem neuen Verständnis für die Natur und die negativen Auswirkungen der Bauindustrie heranzugehen. Schließlich aber meint Bjarne Mastenbroek, auch wenn man noch so viele Gebäude begrünt und Dachgärten anlegt, wären die nachhaltigsten Gebäude sicher jene, die nie gebaut würden. Ein Bonmot, das im zeitgenössischen Architekturdiskurs häufiger zu hören ist.

Architektur durch Subtraktion

Ein Paradebeispiel des Wohnens unter der Erdoberfläche findet sich auf dem Lössplateau im Norden Chinas. Die Yaodong-Höhlenwohnungen werden bereits seit 300 v. Chr. aus dem Boden gegraben. Und bis heute entstehen hier Dörfer auf diese Art. Die Bauweise wurde aus der Not heraus geboren, weil die weite Landschaft der Witterung und starken Temperaturschwankungen ausgesetzt ist. Der Wind bringt Staub aus der Mu-Us-Wüste, wodurch ein hochgradig erodierender, aber fruchtbarer Boden entstanden ist. Deshalb wurden die Behausungen nach unten gegraben. Sie sind um einen nach oben offenen Hof angeordnet. In dieser Organisation verläuft das Leben gemeinschaftlich, Privatsphäre oder der Rückzug aus der Gesellschaft spielen hier kaum eine Rolle. Auch das ist ein Punkt, an dem Mastenbroek Kritik übt – die enorme Wichtigkeit der Privatsphäre in der westlichen Welt. Diese Abgrenzung von der Öffentlichkeit sowie die individualistisch-egoistischen Lebenseinstellungen hätten ebenfalls zu den negativen Architekturentwicklungen in den Städten beigetragen.

Mit der Landschaft

Die niederländische Botschaft in Addis Abeba von SeARCH und Dick van Gameren (1998-2005) ist an beiden Gebäudeenden sichtbar. Mit dem Ansteigen der Landschaft allerdings verwindet das Bauwerk zeitweise aus dem Blickfeld und verwandelt sich in ein Becken zwischen Eukalyptusbäumen. Der seichte Dachpool fungiert als verbindendes Element zwischen der niederländischen Tradition der Wasserwirtschaft und der zerklüfteten Landschaft Äthiopiens. Das dort gesammelte Regenwasser kann für die Bewässerung der Gärten verwendet werden. Der Innenraum folgt der vorhandenen Geländeneigung. Der Hügel teilt das Gebäude auf natürliche Weise in zwei Einheiten, dem öffentlichen Bereich und dem privaten Wohnhaus. Der lange abfallende Korridor der Kanzlei mündet in einem Innenhof, auf dessen anderer Seite die Botschaftsresidenz liegt, die über eine große Treppe zu erreichen ist. Dieses Projekt gewann den Aga Khan Award for Architecture 2007.

Architektur unter Anklage

In das Buch „Dig it!“ sind eine Fülle unterschiedlicher Perspektiven eingeflossen. Sie sind das Ergebnis 10 Jahre langer Forschungen. Über weite Strecken liest es sich wie eine massive Anklage an die Architektur und deren Entwicklung bis Mitte der 1960er-Jahre. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute sieht Bjarne Mastenbroek den Versuch der Architektur, sich der Natur wieder mehr zuzuwenden, sie stärker zu berücksichtigen. Allerdings ist die Anzahl der Architekturstudios, die wirklich ernsthaft an einer Transformation der Industrie arbeiten, gemessen am weltweiten Bauvolumen, noch immer gering. Auf jeden Fall ist es für Architektur-Interessierte lohnenswert, sich etwas tiefer in dieses Buch einzugraben. Es erzählt im Grunde die Menschheitsgeschichte mit den Augen eines Architekten. Eine Geschichte der Entfernung des Menschen von der Natur und der Entwicklung eines Selbstbildes, in dem sich der Mensch irrwitzigerweise außerhalb der Natur sieht. Nur so war es überhaupt möglich, dass wir immer schneller daran gearbeitet haben, unsere eigene Existenzgrundlage zu zerstören.

Bjarne Mastenbroek und Iwan Baan über das Jahrzehnt-Projekt „Dig it!“

Dig it! Building Bound to the Ground. Bjarne Mastenbroek, Iwan Baan. Hardcover mit Ausklappseite, 19,3 x 27,1 cm, 2,58 kg, 1390 S., Englisch. ISBN 978-3-8365-7817-2. taschen.com

Von Felsenkirchen in Äthiopien, Indien oder Finnland, über eine in die Steilküste Capris gebaute Villa bis hin zu zugewachsenen Häusern in Paris. „Dig it!“ bietet eine unglaubliche Fülle an Architektur-Wissen und hervorragende Fotos von Iwan Baan. © TASCHEN

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