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Die Symbolkraft des Tarots

von Markus Schraml
Taschen, Waite-Smith-Tarot

Kurz vor dem Jahreswechsel haben Wahrsagungen Hochkonjunktur. Eine beliebte Methode, in die eigene Zukunft zu blicken, ist das Legen von Tarotkarten. Der Satz von 78 Spielkarten mit geheimnisvollen Bilddarstellungen gehört zur Familie der Tarock-Karten. Die ersten dieser Spielkarten tauchten um 1425 in Norditalien auf. Die Praxis, Tarock-Karten auch für Wahrsagezwecke zu verwenden, begann jedoch erst Mitte des 18. Jahrhunderts. Das Tarot-Kartenset teilt sich in 22 große Arkana (Trumpfkarten) und 56 kleine Arkana (zehn Zahlen und vier Bildkarten) auf. Die Designs dieser Karten können sehr unterschiedlich sein und im Lauf der Zeit haben viele Sets das Licht der Welt erblickt. Die bekanntesten sind das Marseille- und das Crowley-Tarot sowie das weltweit einflussreichste Kartendeck des Mystikers Arthur Edward Waite und der Künstlerin Pamela Colman Smith, das die beiden 1909 schufen.

Im Taschen-Verlag ist zu letzterem Tarot-Set ein bemerkenswertes Buch erschienen, eigentlich eine Box, die einen kompletten Satz der 78 Karten sowie Waites Abhandlung „The Key to the Tarot“ und Faksimile-Drucke der Originalkarten enthält. Autor und Tarot-Pionier Johannes Fiebig erläutert jede Karte anhand von über 800 Abbildungen. Er betont im Vorwort den Zusammenhang von Tarot-Symbolik und individueller Interpretation der Karten. Der Spielraum sei heute sehr viel größer als früher, wo jede Karte wenigen festgelegten Bedeutungen zugeordnet war. So gesehen sei der höchste Erkenntnisgewinn in der individuellen Beschäftigung mit Tarot zu erreichen.

„Praktisch bedeutet dies, dass jede Interpretation jedes Symbols (auch) ein kreativer persönlicher Akt ist – jede Wahrnehmung beinhaltet auch eine persönliche Vorstellung“, steht in der Einführung des Buches. Für Fiebig geht es bei Tarot um eine symbolische Sprache, die dazu dient, die „emotionale Intelligenz und persönliche Kompetenz in den Bereichen Lebensdeutung und Orientierung im Leben zu finden.“ Im Hinblick auf die Zunahme der Interpretationsoptionen muss erwähnt werden, dass diese große Vielfalt heutiger Interpretationsmöglichkeiten auch die Gefahr der Beliebigkeit birgt.

Symbolik und persönlicher Zugang

Was macht das Kartendeck von Waite und Smith so erfolgreich? Die beiden waren Pioniere im Hinblick auf die Schaffung einer offeneren Zugänglichkeit der Darstellungen – jedoch ohne die symbolische Kraft zu verwässern. Die Zeit um 1900 war von neuartigen Lehren gekennzeichnet. In diesem Umfeld erregte Tarot die Aufmerksamkeit von Anhängern unterschiedlichster Gebiete wie der Kabbala, der Astrologie, Geomantie, Numerologie oder der indischen Tattvas. Aus all diesen Einflüssen kreierten Waite und Smith ihren ganz eigenen Interpretationsrahmen und schafften es, dieses kumulierte Wissen auf eine Weise zu verarbeiten, die die jeweiligen Dogmen hinter sich ließ. Ihre Bilder sprechen für sich und ermöglichen einen direkten persönlichen Zugang, aber gleichzeitig bedürfen sie auch einer jeweils individuellen Interpretation. So stehen die Bilddarstellungen, also die Figuren, Szenen und Themen, keineswegs für konkrete Handlungsanweisungen, vielmehr stellt jede Karte eine symbolische Erzählung, ein Gleichnis dar. Das Ziel der Deutung ist es, die innere Stimme und die Selbstbestimmungsfähigkeit zu verbessern.

Der Mystiker und die sehende Künstlerin

Für die Schaffung des Kartendecks brachte Waite sein profundes Wissen über esoterische Traditionen, Symbole und insbesondere über Rituale ein. Er übermittelte Smith seine Vorstellungen und Inhalte für die 78 Karten. Pamela Colman Smith war eine professionelle Geschichtenerzählerin, Bühnenbildnerin und Illustratorin. Sie übertrug Waites Konzepte in Bilder voller lebendiger Geschichten. Mary K. Greer schreibt in ihrem Essay über die Bedeutung von Smith bei der Erstellung des Kartendecks: „Smith war die erste moderne Künstlerin, die 56 Bilder für die Karten der kleinen Arkana schuf, darunter auch Darstellungen, die auf historische oder mythologische Quellen hinweisen.“ Smith konnte, wenn notwendig, sehr schnell zeichnen. Für die Fertigstellung der 78 Karten hatte sie nur wenige Monate Zeit. Verschiedene Autoren haben in ihren Darstellungen weitere Vorbilder ausgemacht, wie Shakespeare und unterschiedliche Bühnenstücke der damaligen Zeit. Des weiteren dürfte das Motiv der „Farbe der Schwerter“ auf den Gründungsmythos der Freimaurerei des legendenhaften Architekten Hiram Abif zurückgehen.

Zudem gibt es Karten, die auf Smiths eigenen Gemälden der Schauspielerin Ellen Terry bzw. deren berühmten Theaterrollen basieren. Die Kunsthistorikerin Melinda Boyd Parsons hat mehrere Schauspielerinnen identifiziert, die Smiths Freundinnen waren und die als Ritter kostümiert für Theaterkarten fotografiert wurden. Sie waren wohl auch Modelle für einige der Karten. Kritiker der Kartendesigns von Smith führen oft die eher ausdruckslosen Gesichter der Figuren ins Feld, Mary K. Greer hingegen sieht dies als großen Vorteil und hält entgegen, dass gerade diese Leere enorm großen Spielraum für Interpretationen lasse.

Pamela Colman Smith – ein Gemälde von Cat Willet.

Neben Greer haben auch Robert A. Gilbert, Rachel Pollack und Fiebig selbst Essays für das Buch verfasst. Fiebig zeichnet außerdem für die ausführlichen Beschreibungen jeder einzelnen Karte verantwortlich, wobei er sowohl auf die Bildsprache und Elemente der Darstellungen eingeht als auch (und dies scheint ihm wichtiger zu sein) auf die symbolische Aussage und Zusammenhänge mit Themen der Selbsterkenntnis. Den Schluss des Werks bilden konkrete Anleitungen, wie die Karten des Waite-Smith-Sets gelegt werden können. Und zwar sowohl für Anfänger, Fortgeschrittene als auch Profis. Autor Johannes Fiebig versteht Tarot als hilfreichen Ratgeber, der seine Nutzer mit neuen Vorschlägen versorgen kann. Je nachdem, wie intensiv und auf welche Art und Weise jemand Tarot betreibt, passt das Zitat von James Wanless (Voyager Tarot): „A card a day keeps the shrink away“ (Wer eine Karte am Tag legt, braucht keinen Psychiater).

Das Tarot von A. E. Waite und P. Colman Smith. Johannes Fiebig, Mary K. Greer, Rachel Pollack, Robert A. Gilbert. Hardcover, Deck mit 78 Karten und Faksimile in einer Schlagkassette, 23 x 28,7 cm, 3 kg, 444 S., € 100. Verlag: TASCHEN.



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