Die Messebranche befindet sich im Wandel. In einer Zeit, in der nahezu alle Messen abgesagt oder in den virtuellen Raum verlegt wurden, mussten sich Messeveranstalter grundlegende Fragen stellen: Was sind die zentralen, einzigartigen Vorteile einer Vor-Ort-Messe? Wie kann der Messebetrieb durch mehr Resilienz auch in Ausnahmesituationen fortgeführt werden? Oder wie schafft man es, das Messeerlebnis adäquat ebenso digital anzubieten? Zweifellos hat die Zeit der Veranstaltungsabstinenz der Entwicklung digitaler Angebote einen massiven Vorschub beschert. Teilweise mutierten Messen zu richtigen TV-Shows mit Talks, Vorträgen und Präsentationen. Gut umgesetzt etwa bei der Dutch Design Week (Eindhoven) oder der ISH 2021 in Frankfurt.
Super Salone?
Die weltweit größte Messe im Designmöbelbereich, der Salone del Mobile in Mailand, musste wie vieles andere in den letzten eineinhalb Jahren mehrfach verschoben und schließlich abgesagt werden. Da der Veranstalter Federlegno Arredo Eventi SpA den Event nicht noch ein weiteres Jahr ausfallen lassen wollte, setzte er alles daran, eine Sonderausgabe unter dem Titel „Supersalone“ im September über die Bühne zu bringen.
Dieses kräftige Lebenszeichen nahm die formfaktor-Redaktion zum Anlass, wichtige Branchenvertreter*innen (vor allem Unternehmer*innen) zur Zukunft von Messeevents zu befragen. Auch im Angesicht der Tatsache, dass während des Ausfalls der Messeveranstaltungen viele Designmöbelhersteller das Heft selbst in die Hand nahmen und ihre Neuheiten in mehr oder weniger geglückten Online-Präsentationen kurzerhand selbst vorstellten. Auf die provokante Frage, ob die unternehmerische Tätigkeit auch ohne den Salone del Mobile vorstellbar wäre, antworteten italienische Firmenchefs erwartungsgemäß mit einem NEIN (in Großbuchstaben). So sagte Alberto Bonaldo: „Wir schließen nicht aus, dass sich die Natur der Messen in Zukunft ändern könnte, wir sind uns aber zugleich ziemlich sicher, dass sie auch weiterhin wichtig für die Branche sein werden.“ In Bezug auf Mailand sieht der Italiener das Erfolgsrezept in der „optimalen Zusammenarbeit zwischen dem Salone, der Messeorganisation also, und dem Fuori Salone mit den vielen Showrooms und Events in der Stadt.“
Lorenza Luti, die Tochter des Langzeit-Präsidenten des Salone Claudio Luti, der im April dieses Jahres zurückgetreten ist, sieht ebenfalls die starke Verbindung zwischen der Stadt Mailand und des Salone. „Es muss das Zentrum der Designwelt bleiben“, betont sie. Für Kartell sei der Salone DER Moment des Jahres. „Außerdem ist es praktisch, die Deadline des Salone zu haben. Dorthin kommen wir mit der Arbeit des letzten Jahres, können sie präsentieren und haben Gelegenheit, unsere Kund*innen und die Kartell-Familie aus der ganzen Welt zu treffen. Sicher auch, um neue Geschäfte zu machen. Wichtiger ist aber, in der physischen Welt zeigen zu können, was wir machen. Darüber sprechen zu können und unsere Strategie zu vermitteln. Es ist sehr schwierig, das alles digital zu vermitteln“, erläutert Luti.
Digitale Infrastruktur stärken
Norbert Ruf, Geschäftsführer und Creative Director von Thonet, sieht aktuell keine Alternativen zu Messen, das könne sich in Zukunft aber ändern, denn „parallel zu unserer Generation und der vorherigen wächst eine neue heran, die sich zusätzlich und teilweise auch gänzlich anders informiert“. Dennoch seien seines Erachtens die Produkte von Thonet dazu da erlebt, berührt und gefühlt zu werden. Ruf bringt aber auch das Thema Digitalisierung in die Diskussion um zukünftige Messen ein. „Gelernt haben wir in den letzten gut anderthalb Jahren wahrscheinlich alle, dass Reisen auch in Zukunft eventuell nicht immer möglich sein wird. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht auf jeden Fall ein unkomplizierter und umfangreicher Zugang zu kapazitätsstarken WLAN-Netzwerken und Übertragungsvolumen. So könnte auch Kunden, Partnern und Gästen, die nicht vor Ort sein können, ein direktes Erlebnis geboten werden – auch wenn das Anfassen und Probesitzen fehlt.“
Physische und virtuelle Welt
Dass hybride Messeveranstaltungen sehr vielversprechend sind, hat Cristiano Crosetta, CEO der italienischen Marke Tubes, bereits erkannt: „Ein Messeevent, an dem man teilnimmt, ermöglicht auch das Erlebnis der Haptik, die Informationen können aber schon während der Messe als auch danach auf virtueller Ebene geteilt werden. Digital könnte die Messe außerdem noch viel länger andauern“, meint er. Marco Levrangi, CEO des italienischen Outdoorspezialisten Fast glaubt, dass Themen wie Digitalisierung, aber auch Nachhaltigkeit über den Erfolg zukünftiger Messen entscheiden werden. „Ein kontinuierlicher Dialog zwischen Verbänden, Messegremien und Unternehmen wird unabdingbar sein. Die Bedürfnisse aller müssen dabei erkannt werden, sodass die richtige Formel gefunden werden kann, die alle zufriedenstellt. Der Wille zur Konfrontation und die Neugierde werden die Motoren der Messen in Zukunft sein. Der Erfolg der Messen wiederum wird von der Fähigkeit, Konfrontation und Neugierde anzuregen, abhängig sein“, sagt Levrangi.
Die Messe als Umweltsünder
Apropos Nachhaltigkeit: Für Njusja de Gier, Senior Vice President Marketing von Kvadrat, werden Designmessen als physischer Treffpunkt relevant bleiben, „aber ich denke, man wird sich Gedanken über die Anzahl und Häufigkeit von Messen machen. Beides aus Gründen der Nachhaltigkeit, denn Messen produzieren enorme Mengen an Müll und Umweltverschmutzung durch die Reisetätigkeit. Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass wir unsere Produkte auch anders promoten und wir Menschen auf andere Art treffen können.“ Was Vor-Ort-Veranstaltungen betrifft, führt sie die immer populärer werdenden 3daysofdesign in Kopenhagen an, ein Designevent, der sich gänzlich in den vorhandenen Showrooms und in Pop-ups abspielt. Dies sei ein viel nachhaltigeres Modell, weil keine großen Messeaufbauten notwendig seien.
de Gier glaubt, dass zum Beispiel der Salone immer eine große Attraktion sein wird und eine fantastische Gelegenheit, viele Menschen innerhalb nur einer Woche zu treffen, „aber vielleicht sollte man zu einem Event im Zweijahresrhythmus wechseln und die digitale Komponente verstärken, damit die Leute auch online teilnehmen können.“ Dies sei nicht nur eine Frage der Ökologie, sondern auch der Kosten einer Messeteilnahme.
Treffpunkt für Nachwuchsdesigner*innen
In vielen Statements wird betont, dass eine große Messe die Gelegenheit biete, alle Neuheiten an einem Ort in relativ kurzer Zeit zu sehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft junge Designer*innen. Für sie sind Messen enorm wichtig, um Kontakte zu knüpfen und sich zu präsentieren. Der belgische Designer Alain Gilles bringt es auf den Punkt: „Es ist ein Treffpunkt. Bilder sind nett, aber die Realität eines Produkts kann man nur vor Ort richtig erfahren. Ich bin als junger Designer immer wieder zu Unternehmen gegangen, um meine Designs vorzustellen. Denn selbst wenn man intensiven E-Mail-Kontakt etc. hat, gewöhnlich wird aus einem Projekt erst etwas, wenn man sich persönlich getroffen hat“.
Der digitale Ausweg
Viele Messeorganisator*innen sehen ihr Heil in Hybridveranstaltungen. Also sowohl der Vor-Ort-Messe als auch dem digitalen Angebot. Zeit war in den letzten 20 Monaten genug, um entsprechendes Know-how und virtuelle Infrastrukturen aufzubauen. Nun, wo dies alles vorhanden ist, wird es wohl beibehalten oder sogar ausgebaut werden. Die Zahlen des „Supersalone“ in Mailand sprechen dafür eine deutliche Sprache. Die Veranstaltung war im Vergleich zu einem „richtigen“ Salone stark verkleinert und zog lediglich 60.000 Menschen an (normalerweise sind es über 350.000). Ganz anders sieht die Situation bei den Log-ins und Zugriffszahlen auf das digitale Angebot aus: Der QR-Code wurde über die neue App 22.000 Mal gescannt. 1,5 Millionen Webseiten wurden besucht, mit durchschnittlich 90.000 Besucher*innen pro Tag (Stand: Ende der Messe). Der neue Salone del Mobile.Milano TikTok-Account verzeichnete 630.000 Views. Auf den Social Media-Kanälen Instagram, Facebook, LinkedIn und Twitter gab es 15 Millionen Impressions, 25.000 Interaktionen und 50.000 Videoaufrufe.
Der zukünftige Erfolg von Messen wird davon abhängen, ob es den Organisator*innen gelingt, auch eine digitale Plattform zu schaffen, die das ganze Jahr über als wichtige Anlaufstelle für die Branche wahrgenommen wird. So gesehen tun sich völlig neue Möglichkeiten für Messeveranstalter auf. Das Schöne daran ist, dass die Nutzer*innen davon enorm profitieren würden – und zwar weltweit.