Mit ihrem Projekt „Unseen Edible“ hatte Julia Schwarz von Anfang an Erfolg. Die Erforschung der Flechte als zukunftsfähige Nahrungsquelle, auf die (derzeit besonders aktuell) auch in Krisenzeiten zurückgegriffen werden könnte, stieß nicht nur in der Design-Community auf großes Interesse. Talks, Flechten-Workshops, Ausstellungen und vor allem Flechten-Erlebnis-Dinner haben die Flechte ein Stück weiter ins Bewusstsein der Konsumgesellschaft gerückt. Nun hat Schwarz gemeinsam mit Lisi Penker das Label Simiæn ins Leben gerufen, mit dem die Flechte von einem explorativen Awareness-Stadium in die Dimension der tatsächlich erwerbbaren Produkte eintritt.
Flechten haben die Eigenschaft, die Gegend, in der sie wachsen, geschmacksmäßig aufzunehmen. Und sie wachsen auch nur dort, wo es keine hohen Umweltbelastungen gibt. In reiner alpiner Höhenluft oder an rauen Küsten gedeihen sie am besten. Das und die Frage „Wie schmeckt Flechte eigentlich?“ führte zum Projektnamen „Licking Rocks“. In einer Kooperation mit den Kräuterfachleuten der Saint Charles Apotheke in Wien wurde die Teemischung „Hinterthal“ entwickelt. Damit steht einer Teezeremonie auf Flechtenbasis nichts mehr im Wege. Auch weil Schwarz und Penker neben ihrer Tea Infusion ebenfalls ein Tee-Set aus Naturstein (Krug, Tasse, Ablage) designt haben. All dies kann über den Simiæn-Onlineshop erworben werden.
Julia Schwarz arbeitet an ihrem neuen Projekt in der Kreativgemeinschaft „Design in Gesellschaft“ im 20. Wiener Bezirk. Dort traf FORMFAKTOR die Designerin im großen Arbeitsraum, der während der Vienna Design Week zur Galerie umfunktioniert wurde. Zu sehen war eine wundervoll vielfältige Ausstellung, die darauf hoffen lässt, dass sich dieser Ort zu einer regelmäßigen Designausstellungslocation entwickeln wird.
FORMFAKTOR: Wie hat sich das Thema Flechte in den letzten Jahren entwickelt?
Julia Schwarz: Ich denke, es hat ein höheres Niveau erreicht. Die Flechte gilt zwar immer noch als Novel Food, das heißt, man kann sie nicht als reguläres Lebensmittel vermarkten. Aber Flechten wurden schon in der Vergangenheit konsumiert. Das ist allerdings in Vergessenheit geraten. Bekannt ist das Island-Moos; alle Moose sind Flechten. Unsere Beschäftigung mit dem Island-Moos führte zum Kontakt mit der Saint Charles Apotheke. Und nun haben wir den ersten Flechtentee kreiert.
FORMFAKTOR: Er heißt „Hinterthal“. Ist damit ein konkreter Ort gemeint?
Julia Schwarz: Ja. Im Zuge der Entstehung des Labels gab es den Gedanken, dass wir einen Ort nachempfinden wollen. Zunächst haben wir an Berge gedacht, die aber nicht für jeden ein Sehnsuchtsort sind. Schließlich kamen wir auf das Hinterthal im Pinzgau am Fuße des Hochkönigs. Den Geschmack dieser Gegend versuchten wir sozusagen nachzuempfinden. Neben den Hauptzutaten des Tees Island-Moos und Bartflechte sind auch Bergrosen, Himbeeren, Brombeeren, Hagebutten und Schafgarbenkraut enthalten.
FORMFAKTOR: Was ist denn das Besondere an der Flechte?
Julia Schwarz: Die Flechte schmeckt genau wie das Island-Moos grundsätzlich sehr bitter. Auch nimmt die Flechte Umwelteinflüsse stark auf. Zum Beispiel, wenn man eine Flechte isst, die im Wald gewachsen ist, dann schmeckt sie erdig, wie frische Waldluft. Ist sie hingegen an der Küste gewachsen (zum Beispiel gibt es auf Mallorca viele Flechten), dann schmeckt sie, wie Meerluft riecht – leicht salzig. Grundsätzlich wachsen Flechten nur dort, wo die Luft sauber ist. Die Baumflechte sieht man nur an Bäumen, die zum Beispiel nicht gespritzt sind. Viele Flechten an einem Baum sind also kein Zeichen einer Krankheit, sondern das genaue Gegenteil.
Flechtentee hat man früher gegen Husten getrunken. Island-Moos wurde wegen seiner Schleimstoffe verwendet, es wirkt Darm anregend. Flechten beinhalten die Vitamine D2, D3 und B12 und wirken antibakteriell, antiviral und sogar zytotoxisch. Die Flechte ist allerdings noch nicht vollständig erforscht. Sie hat aber auf jeden Fall gesundheitliche Vorteile.
FORMFAKTOR: Der Projektname lautet „Licking Rocks“. Wieso?
Julia Schwarz: Im Rahmen des London Design Festivals im letzten Jahr haben wir eine Verkostung organisiert, wo Flechten in verschiedenen Essenzen probiert werden konnten. Die Frage, die wir uns dabei stellten, war, wie kann ich den Geschmack von Flechte beschreiben, wenn ich ihn mit nichts vergleichen kann. Ich habe selbst diese Erfahrung gemacht, als ich Flechten das erste Mal gekostet habe. Es war völlig neu, hatte ein ganz neues Geschmacksprofil. Man kann das Aromarad (Anm.: standardisiertes System zur sensorischen Beschreibung von Aromen) zu Hilfe nehmen, aber das war mir zu langweilig. Dort sind Worte vorgegeben, die den Geschmack der Flechte nicht beschreiben können. Die Schlüsselfrage war: Woran erinnert mich dieser Geschmack? Darauf kamen dann Antworten wie „reminds me of licking rocks“ (erinnert mich an Steine ablecken). Das brachte uns auf den Namen. Zudem passt er sehr gut zum Naturstein, den wir für die Utensilien unserer Teezeremonie verwenden.
FORMFAKTOR: Das Label Simiæn wurde während der jüngsten Vienna Design Week gelauncht. Wie lange hat es gedauert, bis es so weit war?
Julia Schwarz: Das geht auf das Jahr 2018 zurück, wo ich meine jetzige Partnerin bei Simiæn Lisi Penker kennengelernt habe. Gemeinsam haben wir den nächsten Schritt gemacht – also von der fiktiven Lebensmittelpalette zu konkreten Produkten. Wir haben einen Flechten-Gin Prototypen gebrannt und kamen dann aber ziemlich schnell auf Tee, weil das einfach die traditionellste Art der Verwendung der Flechte auch in der Vergangenheit war.
FORMFAKTOR: Welche Produkte gibt es bei Simiæn? Und welche Überlegungen gibt es für die Produktpalette?
Julia Schwarz: Wir wollen uns mit Simiæn auf Food Futures fokussieren, wobei wir aber sowohl Food- also auch Non-Food-Produkte anbieten, um das ganze Spektrum abzudecken. Es geht nicht nur darum, welche Lebensmittel man konsumiert, sondern auch, aus welchen Gegenständen man sie konsumiert. Gestein ist für uns ein Hauptmaterial, mit dem wir arbeiten. Weil die Flechte darauf wächst, aber auch, weil Gestein die Grundlage sehr vieler Materialien ist. Wir halten uns das offen. Wir planen nach „Hinterthal“ weitere Teesorten. Auf jeden Fall wollen wir uns zunächst auf wenige Produkte konzentrieren, die aber sehr gut ausarbeiten – vom Geschmacksprofil her und auch weil es eben Novel Food-Produkte sind.
FORMFAKTOR: Der Geschmack von Flechten soll sehr bitter sein. Heißt das, der neue Tee ist ebenfalls sehr bitter?
Julia Schwarz: Nein, es gibt selbst unter Flechtologen immer wieder die Aussage, man kann sie essen, aber sie schmeckt bitter. Ich denke, mit unserem „Hinterthal“-Tee haben wir es geschafft, einen ausgewogenen Geschmack zu kreieren, bei dem das Bittere wohl als unterstützende Note dabei ist, aber nicht im Vordergrund steht.
FORMFAKTOR: Woher kommt der Name Simiæn?
Julia Schwarz: Es gibt das Simien-Plateau in Äthiopien. Dort leben Gras und Flechten fressende Affen, die Geladas. Dieses Bild möchten wir bei unserer Arbeit immer im Hintergrund haben: die Geladas, die in dieser sehr unwirtlichen Gegend überleben können und sich von Gras und Flechten ernähren. Es ist ein Sehnsuchtsort. Wir haben die Schreibweise mit dem ae verändert.
FORMFAKTOR: Sie sind Teil der Atelier-Gemeinschaft Design in Gesellschaft. Wie hat sich das ergeben?
Julia Schwarz: Viele von uns haben eine Beschäftigung, machen aber auch eigene Projekte. Und dafür braucht man Platz. Außerdem ist es sehr angenehm, in Gesellschaft zu arbeiten (deshalb auch der Name Design in Gesellschaft). Wir haben das auf der Uni, speziell auf der Angewandten, so kennengelernt, wo man auf seine Projekte immer gleich auch Feedback bekommen hat. Die Angewandte war quasi unser Zuhause, wo wir alle zusammen waren. Dann war das vorbei und es fühlte sich komisch an. Jetzt sind wir wieder zusammen, Industriedesigner, Produktdesigner und Designer, die konzeptionell, investigativ arbeiten. Wir haben ein Labor, wo wir Arbeitsgeräte gemeinsam nutzen können. Dadurch ist einfach mehr erreichbar. Wir haben diesen Raum, diese Galerie, wodurch diese Ausstellung erst möglich wurde. Und wir wollen auch in Zukunft hier immer wieder Ausstellungen machen.
Zu „Design in Gesellschaft“ gehören Franz Ehn, Sophie Falkeis, Stephanie Kneissl, Philipp Loidolt-Shen, Mia Meus, Johanna Pichlbauer, Isabel Prade, Julia Schwarz, studio re.d (Kerstin Pfleger/Peter Paulhart) und Christoph Wimmer-Ruelland.