Neri & Hu ist das international bekannteste chinesische Architekturbüro. Ihrem umfassenden Designverständnis folgend, arbeiten sie aber nicht nur an Architekturprojekten, sondern auch im Interieur- und Möbelbereich. Im Rahmen des diesjährigen Salone del Mobile präsentierten Rossana Hu und Lyndon Neri das Ergebnis einer neuen Zusammenarbeit mit dem österreichischen Möbelhersteller Wittmann. Für die Traditionsmanufaktur, die als weltweit einziges Unternehmen Entwürfe von Josef Hoffmann re-editieren darf, haben Neri & Hu das Sofa „BLOCKS“ gestaltet. Es handelt sich um Polsterelemente (Blöcke), die auf vielfältige Weise kombiniert werden können. Der in der Optik einer Husse ausgeführte Bezug sowie die bogenförmigen Seitenteile sorgen für eine Eleganz, die sich harmonisch ins Wittmann-Portfolio einfügt.
Im FORMFAKTOR-Exklusivinterview, das auf dem Wittmann-Messestand des Salone geführt wurde, sprachen Rossana Hu und Lyndon Neri über Total Design, gestalterische Konsequenz und über die lebendige Designszene in Shanghai.
FORMFAKTOR: Dies ist das erste Mal, dass Sie mit Wittmann zusammenarbeiten. Wie kam es dazu?
Lyndon Neri: Luca Nichetto, der Creative Director von Wittmann, machte diesen Vorschlag. Grundsätzlich sind wir sehr vorsichtig, mit wem wir zusammenarbeiten, weil wir sehr viele Anfragen bekommen. Aber wir sind nun mal Architekten – und wenn man die reiche Wiener Geschichte kennt, mit Adolf Loos (er ist einer meiner Lieblings-Architekten) und mit Josef Hoffmann – da mussten wir einfach Ja sagen. Die Zusammenarbeit war allerdings gar nicht leicht, wegen der Reisebeschränkungen durch COVID, sodass wir unser Design lange Zeit nicht sehen konnten. Ganz entscheidend bei diesem Entwurf sind aber die Details, die Detailarbeit. Letztendlich wurden wir sehr positiv überrascht und sind mit der Qualität sehr zufrieden.
FORMFAKTOR: Wie sind Sie an diesen Entwurf herangegangen?
Lyndon Neri: Viele Möbel sind heutzutage wie ein Objekt, ein Spektakel gestaltet. Deshalb stellten wir uns die Frage, was, wenn wir mehr in den Hintergrund gehen und den Nutzern die Möglichkeit geben, ihn selbst zu gestalten. Wir schufen also Blöcke, die man auf unterschiedliche Weise zusammensetzen kann. Wie es in der Architektur verschiedene Blöcke gibt. Die Idee war also, auf die grundsätzliche Vorstellung von Architektur zurückzugehen.
FORMFAKTOR: Wie unterscheidet sich Ihr Zugang als Architekten zum Möbeldesign, von dem von Designern?
Lyndon Neri: Als Architekten schauen wir in die Vergangenheit – auf Persönlichkeiten wie Le Corbusier, Charlotte Perriand, Mies van der Rohe, Louis Kahn oder Walter Gropius – sie alle haben Architektur entworfen, aber auch Interieurs gestaltet und Produkte designt. In der heutigen Zeit ist das alles getrennt. Daran glauben wir nicht. Wir denken, dass das alles zusammengehört, zusammengehören muss.
FORMFAKTOR: In der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es keine Designer, Architekten machten die Designs – wie Gio Ponti …
Lyndon Neri: … oder Magistretti oder Castiglioni. Ich weiß nicht, warum, aber heutzutage wird alles in unzählige Kategorien aufgesplittet. Sie nennen es Spezialisierung. Angefangen hat es in Amerika …
Rossana Hu: … mit der Industrialisierung der Produktion. Zum Beispiel die Montagelinien bei Ford Motors, wo jeder auf eine einzige Sache spezialisiert war. Und das wurde auf alle möglichen Bereiche übertragen, inklusive Design. Mit unserem Background als Architekten verfolgen wir dagegen das Prinzip des Total Design, wie es von Walter Gropius im Bauhaus praktiziert wurde. Die Idee dafür kam aus der Oper, von Richard Wagners Gesamtkunstwerk und danach wurde es auf andere Bereiche übertragen. Ich glaube, das ist auch heute relevant und wir bringen es zurück. Wir sprechen in unseren Vorträgen darüber, besonders vor Publikum, das mit dieser auch chinesischen Tradition nicht vertraut ist.
FORMFAKTOR: Welche Unterschiede gibt es in der Herangehensweise an ein großes Architektur-Projekt im Vergleich zu einem Möbel?
Rossana Hu: Da gibt es offensichtliche Unterschiede. In Bezug auf die Größe, die Details und die Funktionen. Aber in jeder Kreation gibt es auch den zugrundeliegenden Gedanken eines Konzepts. Die konzeptionelle Idee eines Möbels oder eines Hauses kann also sehr ähnlich sein. Zum Beispiel sind in Le Corbusiers Wohnmaschine der Stuhl, das Bett, das Sofa alles Maschinen zum Sitzen oder Liegen. Das heißt, die Idee der Maschine ist für ihn das Fundament seiner Gestaltungen. Unsere grundlegende Strategie für Architektur, Innenarchitektur und Produktdesign kommt aus der Betrachtung des Alltags, des Mondänen, aus der Art, wie die Menschen Dinge benutzen. Es ist ein Ausdruck der Kultur, des Erbes, der Geschichte und eines klaren Weges der von der Vergangenheit in die Zukunft führt.
FORMFAKTOR: Sie bekommen sehr viele Anfragen. Wie entscheiden Sie, an welchem Projekt Sie arbeiten wollen und an welchem nicht?
Lyndon Neri: Die letzten zwei Jahre haben wir uns auf kleinere Marken fokussiert, die noch nicht sehr bekannt sind. Natürlich haben wir auch an den großen Projekten weitergearbeitet, aber wir haben uns gesagt, wir sollten die kleinen Marken nicht vergessen. Zum Beispiel Very Wood (eine Marke von Gervasoni), für Arflex haben wir vor zwei Jahren etwas gemacht und für die eher klassische Marke Ento, die dieses Jahr einen modernen Weg einschlagen wollte, haben wir auch etwas designt. Für die japanische Marke Ariake entwarfen wir die Umu-Kollektion. Unsere Zusammenarbeit mit Poltrona Frau haben wir natürlich fortgesetzt. Das alles sind Unternehmen, die hochwertige Arbeit leisten, wie die französische Marke La Manufacture oder eben auch Wittmann.
FORMFAKTOR: Wittmann möchte ja internationaler werden.
Lyndon Neri: Nicht sehr viele Menschen kennen Josef Hoffmann und das sollte sich auf jeden Fall ändern. Gestern wurden wir in einem Podcast gefragt: Braucht die Welt noch einen Stuhl? Und ich sagte Ja, denn 90 % der Stühle auf der Welt sind Müll. Die Möbel, die hier auf dem Salone ausgestellt sind, machen nur etwa 5 % aus. Würde man das auf die Gesamtheit ausweiten, würden die Preise sinken. In jeden Fall sollten viel mehr Menschen über Hoffmann und Loos Bescheid wissen. Denn dann würden auch die schlechten Möbel weniger werden, glaube ich.
FORMFAKTOR: Sie arbeiten mit einem großen Team an vielen verschiedenen Projekten. Wie schaffen Sie das?
Rossana Hu: Es gibt eine Geheimwaffe. Sie heißt WeChat. Das ist eine App, mit der man Videos und Nachrichten senden oder Gespräche führen kann. Außerdem lassen sich damit verschiedene Arbeitsgruppen bilden. Das erlaubt uns, auch wenn wir viel unterwegs sind – und das sind wir – gut zu kommunizieren. Lyndon war seit November nicht mehr in Shanghai und wir beiden haben in Yale gelehrt. Gerade in den letzten Jahren war dieses Tool sehr wichtig. Was auch hilft, ist, eine klare Gestaltungsvision zu haben, denn nur dann kann das Team effizient arbeiten. Wir behandeln unsere Designer nicht wie Maschinen, sondern wie Individuen. Wir führen unser Studio eher wie eine Schule. Es geht mehr darum, die jungen Designer anzuleiten. Wir geben die Richtung vor, aber wir bestimmen nicht jedes Detail. Dann braucht es eine Menge Dialog, ein intensives Hin-und-Her. Es geht um Kooperation, nicht um einen Stararchitekten, der sagt, ich will das und das, sondern wir müssen die Leute, die mit uns arbeiten, überzeugen, warum etwas besser ist als das, was sie vorgeschlagen haben. Und wenn sie anderer Meinung sind, gibt es eine Menge Diskussionen. Aber nur so ist es möglich, am Ende die beste Lösung zu finden.
Lyndon Neri: Es ist schon ein Kampf. Oft gibt es etwas, was wir als Flaschenhals bezeichnen. Wir beide kontrollieren gerne, aber im Sinne der Idee des Projekts. Rossana ist der Idee der Konsistenz sehr verhaftet. Ich wiederum habe eine Obsession für die Details, für die Form, das Interieur. Manchmal sagen wir dann – stopp, das ist noch nicht richtig. Hier in Mailand launchen wir diesmal sechs Produkte, aber vier wurden gestoppt. Beinahe hätte wir auch dieses Projekt für Wittmann gestoppt. Ich bin keine Primadonna, aber man muss seinen Überzeugungen folgen. Unsere Projekte laufen sehr langsam. Aus einer chinesischen Perspektive müssten wir 10 mal so viele Projekte machen. Es geht uns immer um das beste Endergebnis. Wir können hinter all unseren Projekten stehen, vielleicht mit ein, zwei Ausnahmen, weil wir sehr kontrolliert vorgehen.
FORMFAKTOR: Wie entwickelt sich die Designszene in China?
Rossana Hu: Es ist sehr aufregend zu sehen, wie eine junge Generation von Architekten, Produktdesignern, Modedesignern und Künstlern sich mit der Welt auseinandersetzt – nicht nur mit China. Speziell in Shanghai gibt es eine Explosion von kreativer Energie. Das wird im Westen noch nicht so wahrgenommen, aber ich denke, in den nächsten drei bis fünf Jahren wird man jede Menge neuer Architekten, Künstler und Projekte sehen.
Lyndon Neri: Das Produktdesign ist etwas weniger. Architektur und Interieurdesign sind sehr stark. Der Grund, warum Produktdesign hinterherhinkt, ist, weil es nicht viele gut entwickelte chinesische Marken gibt. Das Gute an Europa ist, dass die Designer hier mit Marken arbeiten können, die eine lange Geschichte haben. Das heißt, man kann eine Skizze machen, eine Naht zeichnen und sie können das produzieren. Das Problem vieler chinesischer Hersteller ist, dass sie dieses Level von Produktion gar nicht verstehen. Ein Designer kann noch so gut ausgebildet sein, aber seine Ideen können nicht in die Produktion übersetzt werden. Wir haben das Glück, mit europäischen Marken zu arbeiten, die die Fähigkeit besitzen, die Qualität sogar noch zu steigern. Viele chinesische Marken wollen mit uns kooperieren, wir sind aber sehr wählerisch und arbeiten nur mit Stellar Works zusammen. Andere haben zwar das Potenzial, aber das notwendige Level haben sie noch nicht erreicht.
Rossana Hu: Das braucht viel Zeit. Wenn wir mit einer Marke kooperieren würden, die noch nicht so weit ist, dann wäre das sehr zeitaufwendig, weil wir nicht nur ein Produkt gestalten, sondern den gesamten Prozess führen müssten. Das müssen wir in Europa nicht, weil die Marken hier bereits sehr ausgereift sind.
London Neri: Die Architekturszene hingegen wächst in China. Das liegt daran, dass die Immobilienentwickler das Potenzial der höheren Rendite sehen. Das heißt, der Entwickler drängt die Auftragnehmer dazu mit höherer Qualität zu arbeiten, weil sie damit mehr Geld machen. Aber für hoch qualitative Produkte gilt das noch nicht.
FORMFAKTOR: Vielen Dank für das Gespräch.