Der Begriff der Schönheit entzieht sich einer allgemein akzeptierten, verbindlichen Objektivierung, denn sie beruht auf persönlichem Empfinden. Und dennoch gibt es allgemeine Strömungen, die sich im Lauf der Zeit stark verändern – sowohl im Menschenbild als auch in Bezug auf die Form von Objekten. Auch Designer arbeiten nicht außerhalb ihrer Zeitepoche, sondern sind darin gefangen. Immer steht die Schönheit eines Objekts in Verbindung mit anderen Eigenschaften wie Funktion, Charakter oder der Idee. Letzteren Umstand hebt Marcel Wanders im FORMFAKTOR-Interview hervor: „Ich denke, das Design von Ideen und Schönheit lebt. Es muss keine große Idee sein, aber wenn man überhaupt nichts ändert, ist es nicht Design, sondern bloß ein schönes Objekt. Fein. Dagegen habe ich nichts, aber wenn ein Designer involviert ist, sollte zumindest eine kleine Idee vorhanden sein. Immerhin ist es die Aufgabe von Designern, Ideen zu haben und sie auf fantastische Weise umzusetzen. Schönheit ist davon ein sehr relevanter Teil, aber nicht der einzige. Es gibt das Sprichwort: Wenn Liebe ein Land wäre, dann wäre Schönheit sein Botschafter.“
Die US-amerikanische Architektin, Designerin und Professorin Felicia Ferrone definiert Schönheit akademisch: „Erstens ist es die Proportion, die darüber entscheidet, ob ein Objekt nur OK oder poetisch ist. Weil ich Design unterrichte, sehe ich das jeden Tag. Manchmal geht es nur um einen Millimeter, um eine subtile Anpassung, die einem Design eine emotionale Resonanz verleihen kann. Natürlich sollen Dinge rational sein und ihre Funktion erfüllen, aber die Schönheit kommt aus der Proportion und von der Cleverness im Sinne von etwas, das nicht neu um der Neuheit Willen ist, sondern das die Typologie vorwärtsbringt … Proportion ist der Kern von Schönheit. Man sieht es bei Menschen, bei Mode, der Architektur, bei Wolken“, erläutert Ferrone.
Für Carlotta de Bevilacqua, Designerin und CEO von Artemide, entsteht Schönheit aus Harmonie: „Es ist eine Balance oder Synthese von vielen Dingen. Es geht nicht um die Form, es geht um die Bedeutung. Es braucht Ideen, Kompetenz und Werte, daraus ergibt sich die Schönheit.“ Der italienische Lichtpoet Davide Groppi wiederum bringt den Begriff der Wahrheit ins Spiel: „Wie Sant’Agostino sagte, liegt die Schönheit in der Wahrheit. Ist etwas schön, ist es auch wahr. Für mich persönlich hat Schönheit etwas mit minimalistischen Linien, mit Reinheit zu tun. Das ist sehr wichtig und das zeigt sich auch in meiner Arbeit.“
Die Schönheit finden
Den Begriff der Schönheit zu definieren ist schwer. Selbst für den französischen Designer Ronan Bouroullec, der in seiner Arbeit und in seinem Leben generell nach Harmonie und Schönheit strebt. Aber er sagt: „Dafür habe ich keine Definition, weil es für mich zum Beispiel keinen guten Geschmack gibt. Geschmack ist sehr komplex. Ich weiß nicht … Schönheit könnte sein, wie das Morgenlicht auf einen Baum fällt oder eine banale Kaffeetasse, deren Proportionen perfekt sind. Es kann ein Gedicht, ein Buch sein, es kann ein Stuhl in einem hässlichen Laden sein. Es gibt in dieser Welt sehr viel Schönheit. Die Frage ist, wie man sie findet. Man sollte auch versuchen, Zeit damit zu verbringen, Schönheit zu erschaffen. Ich weiß, dass ich manchmal der Schönheit recht nahekomme, … aber das ist eine sehr komplexe Frage.“
Genauso reagiert Oki Sato (CEO und Chefdesigner von nendo) und bezeichnet das als sehr schwierige Frage. Nach kurzem Überlegen meint er dann: „Ich glaube, es ist die Unvollkommenheit. Zum Beispiel ein Stuhl: Wenn man nach Perfektion sucht im Hinblick auf Ergonomie, Technologie, Nachhaltigkeit, Sicherheit, Kosten, dann wird daraus eher ein Bürostuhl werden. Er hat alles, was man braucht, aber er ist nicht wirklich schön. Wenn etwas unvollkommen ist, muss man auf es achten. Leder beispielsweise ist nicht perfekt: Es bekommt Flecken, man muss es reinigen, eben darauf achten. Aber dann wird es zu einem Teil von Dir. Das ist für mich Schönheit. Mit einem Objekt zusammenzuleben in einem Raum. Eine perfekte Person ist superlangweilig. Kleine Probleme schaffen Persönlichkeit und Freundlichkeit, würde ich sagen.“
Die US-amerikanische Lichtdesignerin Lindsey Adelman argumentiert ähnlich, wenn sie sagt: „Ich glaube, die schönsten Dinge sind auch ein bisschen hässlich. Nehmen wir zum Beispiel Malachit: Genau betrachtet ist dieser Stein zwar schön, aber auch grotesk, alleine deshalb, weil er in der Natur gewachsen ist. Dasselbe gilt für Pilze im Wald. Sie sind ein bisschen hässlich, nicht?, und gleichzeitig schön. Schönheit ist, wenn etwas eine Geschichte erzählt, wenn jemand etwas durchmachen musste und die Male des Weges in die Freiheit zu sehen sind. Auch meine Arbeit erzählt Geschichten oder hat Geschichten als Hintergrund. Schönheit ist, was man im echten Leben macht“, meint Adelman.
Der britische Industriedesigner James Melia (Gründer des Studios blond) sieht die Schönheit eng mit dem Zweck verbunden und nimmt Bezug auf eine Schau, die während der Mailänder Designwoche zu sehen war: „Es gibt in unserer Ausstellung von Artefakten ein altes Bügeleisen. Es ist einerseits sehr gut durchdacht und gleichzeitig ästhetisch interessant oder sogar witzig. Aber das Wichtigste ist, dass dabei wirklich jedes einzelne Detail gut überlegt und berücksichtigt wurde. Auch das Material, das man verwendet, macht ein Objekt schön. Ich meine, wenn der industrielle oder handwerkliche Prozess, der zur Herstellung verwendet wird, dieses Material richtiggehend feiert – das macht ein Objekt schön“, sagt Melia.
Das Fließen mit der Zeit
Sprechen Designer über Schönheit, nehmen sie meistens Bezug auf die Ästhetik von Objekten. Aber was bedeutet für kreative Menschen ganz persönlich Schönheit. Für Ronan Bouroullec kann es das Morgenlicht auf einem Baum sein und Felicia Ferrone bringt das Gefühl ins Spiel: „Ich denke, es ist eine emotionale Antwort. Manchmal ist es unbeschreiblich. Musik zum Beispiel, aber auch dabei geht es oft um Proportionen. Farben, Kontraste, die Balance. Schönheit ist universell, wirklich. Wir wissen es, wir können es fühlen. Und Marcel Wanders sagt dazu: „Es gibt viele Dinge, die ich schön finde, aber die ich nicht einmal als Designs ansehen würde.“ Auch meint er, dass man, wenn etwas langweilig ist, es weniger schön machen muss, damit es eventuell cooler wird.
Das Schlusswort gehört dem genialen japanischen Designer Oki Sato (nendo). Für ihn persönlich ist Schönheit … „der Fluss der Zeit. Wir sind alle ein Teil der Zeit und wir fließen mit ihr dahin. Wir leben nicht ewig. Und das schafft Schönheit.“
Alle Interviews wurden während der Mailänder Designwoche 2023 geführt.