Home Creation Auf der Suche nach Innovation – 70 Jahre Kartell

Auf der Suche nach Innovation – 70 Jahre Kartell

von Markus Schraml
Lorenzo Luti

Im Jahr 1949 gründete Giulio Castelli das Unternehmen Kartell. Bereits in der ersten Zeit schuf er die Grundlagen für eine Designmarke, die heute für ein „Made in Italy“ steht, das fortschrittliche technologische Methoden mit höchstem Gestaltungsanspruch verbindet. Neben Ehefrau Anna Castelli Ferrieri waren es schon in der Frühzeit namhafte Designer, die für die Marke arbeiteten und den guten Ruf mit aufgebaut haben: Gino Colombini, Achille und Pier Giacomo Castiglioni, Joe Colombo, Marco Zanuso oder Richard Sapper. 1988 übernahm Schwiegersohn Claudio Luti das Unternehmen. Die erfolgreiche Tätigkeit in der Maison Versace war dafür eine ideale Voraussetzung. Sein Streben nach Stil und Perfektion konnte er abseits des hektischen Modezirkus sehr viel konzentrierter umsetzen. Luti engagiert ebenfalls Designer und Architekten, die aber einer neuen Generation von Kreativen angehören. Mit (allen voran) Philippe Starck und bekannten Namen wie Patricia Urquiola, Ferrucio Laviani, Ron Arad, Antonio Citterio oder Piero Lissoni haucht er der Marke neues Leben ein. Entscheidend sind auch neue Produktionstechnologien und das Material Kunststoff, das durch völlig neuartige Bearbeitungsmethoden in erstaunliche Produkte verwandelt wird. Es entstehen ikonische Objekte: Stuhl Maui, Bücherregal Bookworm, Rollcontainer Mobil. Ein entscheidender Schritt war die Einführung von Interieurobjekten aus Polycarbonat (1999). Mit La Marie, einem transparenten Stuhl oder Louis Ghost (bis heute ein Verkaufsschlager) beginnt eine Ära, die das Zusammenspiel von Technologie, Material-Innovation und hochwertigem Design auf eine neue Spitze treibt. Und dieser Weg wird konsequent weiter beschritten. Etwa mit dem superleichten Hightech-Stuhl Piuma aus Karbonfaser oder dem Modell Matrix, bei dem die dreidimensionale Struktur aus einem neuen Spritzgussverfahren entsteht. Auch die Räder in der Geschäftsleitung stehen nicht still. Mittlerweile wird das Unternehmen neben Claudio Luti auch von Sohn Federico (Vertrieb) und Tochter Lorenza (Marketing und Retail) geführt. Kartell ist heute ein internationales Unternehmen mit speziellem Augenmerk auf den Retail- und Onlinevertrieb. Die Markenkommunikation ist online fokussiert mit hoher Interaktionsquote. Gleichzeitig fungieren die vielen Monobrand-Shops als identitätsstiftende Aushängeschilder der Marke.

Im formfaktur-Exklusivinterview spricht Lorenza Luti über das Verhältnis von Design und Kunst, ihre Leidenschaft für das Familienunternehmen und die Markenpräsentation als Erlebnis.

formfaktor: Jubiläumsjahre sind eine Gelegenheit das Unternehmen speziell zu präsentieren. Was ist bei Kartell für dieses Jahr geplant?

Lorenza Luti: 2019 feiern wir unser 70-jähriges Bestehen mit einem spannenden Veranstaltungskalender. Wir kombinieren die Einführung mehrerer neuer, technologisch innovativer Produktfamilien mit kulturellen Events, wo wir nicht nur an die Geschichte denken, sondern auch in die Zukunft blicken. Denn unser Schlagwort heißt Evolution – als ein ständiger Dialog zwischen Kreativität und technologischer Entwicklung. Dieses zentrale Engagement ist ein integraler Teil der Kartell-DNA und eines Wachstumsprozesses, der sowohl den Anforderungen des modernen Lebens als auch dem Nachhaltigkeitsgedanken gerecht wird.

formfaktor: Welche Highlights gibt es im Jubiläumsjahr?

LL: Wir haben uns entschieden, unser Jubiläum mit einer Ausstellung mit dem Titel „The art side of Kartell“ zu feiern. Kuratiert wird sie von Ferrucio Laviani und Rita Selvaggio, und sie wird im renommierten Appartamento die Principi im Palazzo Reale in Mailand während des Salone del Mobile vom 10. April und noch bis 12. Mai 2019 zu sehen sein. Diese Ausstellung erforscht die Zukunftsvisionen von gestern auf dialektisch-analytische Weise in Form von Objekten, Erlebnissen, Modellen, Archivmaterialien und bewegten Bildern, Gemälden, Installationen sowie Performances, Dokumenten, Prototypen und neuen Aufträgen. Die Geschichte wird nicht chronologisch-linear erzählt, sondern eher traumhaft-surreal mit vielen Déja-vus aus Erinnerungen und gedanklichen Landkarten in häuslichen Settings.

formfaktor: Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Design und Kunst bei Kartell und im Allgemeinen?

LL: Es ist nur natürlich, dass Kartell und Design als eine Form des Ausdrucks auch mit anderen Sprachen in direkten oder indirekten Kontakt kommt – nicht zuletzt mit der Kunst, in ihren unzähligen Formen. Und es ist genau diese Beziehung, auf die wir schauen wollen, weil die Entwicklung der Kunst, in einem gewissen Sinn, die Entwicklung von Kartell widerspiegelt. Eine Beziehung und eine Dimension, die uns heute – 70 Jahre später – dazu bringt, nicht nur die geschäftlichen, industriellen und technologischen Aspekte von Kartell zu sehen, sondern auch Dinge, die über die Welt des Designs hinausgehen. Unsere Objekte und die Kunst der Repräsentation schaffen eine einzigartige kulturelle und künstlerische Vision des Lebens, die immer auch die Bedürfnisse und Entwicklungen unserer Gesellschaft widerspiegelt.

formfaktor: Ich nehme an, dass dieses Jahr auch ein besonderes Jahr im Hinblick auf die Präsentation auf dem Salone del Mobile sein wird?

LL: Wie jedes Jahr erfordern die neuen Projekte, die auf der Messe präsentiert werden, eine Menge Vorbereitung und viel Detailarbeit. Das Stand-Design wird wie jedes Jahr eine Überraschung sein. Wir fokussieren auf einige Produkte, die finalisiert wurden und nun in ihrer endgültigen Version verkauft werden – der Logik folgend: jetzt sehen, jetzt kaufen. Im Zentrum steht die Kartell Smart Wood Kollektion, die aus einer Liebe zum Design und der kontinuierlichen Suche nach Neuem und Innovativem geboren ist. Die kreative Idee wurde von Philippe Stark entwickelt und beginnt schon bei der Wahl eines Materials wie Holz, das nobel und alt ist, aber von Kartell in ein industrielles Produkt umgewandelt wird. Es wird, durch ein spezielles Patent, das Holz mit einer Form bearbeitet, die die Krümmung der Platte an ihre Grenzen bringt und eine Sitzschale formt, die außergewöhnliche ergonomische Linien schafft. Insbesondere ist es uns erstmals gelungen, einem bislang zwei-dimensionalen Produkt Dreidimensionalität zu verleihen, wo selbst die Seitenteile so einladend gebogen sind, dass sie maximalen Komfort gewährleisten.

formfaktor: Kartell ist ein familiengeführtes Unternehmen. Wie leicht oder schwierig ist es, Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bringen?

LL: Teil eines Familienunternehmens wie Kartell zu sein, ist eine große Ehre, selbst wenn es einen enormen Aufwand bedeutet, weil sich die private und berufliche Sphäre oft überschneidet. Alles steht im Bewusstsein, dass man Teil einer großartigen Geschichte ist, die mit der Generation meiner Großeltern begann und bis heute andauert, mit mir und meinem Bruder in der Firma, neben meinem Vater. Meine Leidenschaft und mein Engagement kommen daher, dass ich schon als Kind meinem Vater dabei zusah, wie er jedes einzelne Projekt betreute und wie er einen Weg fand, eine kreative Intuition in einen geschäftlichen Erfolg zu verwandeln. Daher kommt meine Leidenschaft für Kartell. Heute gibt es in meinem Haus viele Kartell-Objekte, weil jedes einzelne von einem wichtigen Moment für meine Familie erzählt.

formfaktor: Was waren ihrer Meinung nach wichtige Punkte in der 70-jährigen Geschichte von Kartell?

LL: Unser Motto ist Evolution – in einem ständigen Dialog von Kreativität und Materialentwicklung. Natürlich bedeutet das für das Unternehmen einen erheblichen Aufwand für Forschung und die Diversifizierung der Produktion. Das ist extrem wichtig für uns, ein Teil unserer DNA und auch wichtig für unser Wachstum im Hinblick auf neue Anforderungen beim Wohnen und bei der Nachhaltigkeit. Kartell hat in dieser Beziehung Außergewöhnliches erreicht. Forschung, Prozess- und Produktinnovationen haben es uns ermöglicht, mit neuen Technologien zu experimentieren und neue Materialien einzuführen. 2014 haben wir 15 Jahre transparentes Design gefeiert, um an die enormen technologischen, ästhetischen und auch kulturellen Herausforderungen zu erinnern, die Kartell gemeinsam mit Philippe Starck 1999 begann. Die Einführung von La Marie, dem weltweit ersten Stuhl aus Polycarbonat war entscheidend. Mit diesem Projekt haben wir verstanden, dass Polycarbonat ein Material für Möbel werden kann. Es war transparent wie Glas, bruchsicher, ungiftig, widerstandsfähig und passte in verschiedene Umgebungen. La Marie war das erste in einer langen Reihe von Polycarbonat-Produkten von Kartell: Der Louis Ghost Sessel, das Uncle Jack Sofa – das ist das größte Stück, das je aus transparentem Polycarbonat mit einer einzigen Spritzgussform hergestellt wurde – bis zum Piuma Stuhl, der, dank eines raffinierten Spritzgussverfahrens, nur ein paar Millimeter (maximal 2 mm) dick ist, was zu einem ultraleichten Stuhl führt. Nur 2,4 Kilogramm. Die Forschung geht aber weiter. Wir suchen immer neue Herausforderungen und technologische Innovationen durch ständiges forschen und die Weiterentwicklung von Techniken und Materialien. Die Arbeit an Bioplastik hat zu einem neuen ökologisch-nachhaltigen Projekt geführt, wie die absolut revolutionäre, innovative Verwendung von Holz in der neuen Kartell Smart Wood Kollektion von Philippe Starck.

formfaktor: Welche Bedeutung haben Designer*innen für Kartell?

LL: Die Kreativität von Kartell ist Teamarbeit, geboren und entwickelt aus der Kooperation mit einer Reihe von großartigen Designern, mit denen das Unternehmen schon jahrelang zusammenarbeitet. Darunter sind international bekannte Namen wie Philippe Starck, Antonio Citterio, Ferruccio Laviani, Piero Lissoni, Patricia Urquiola, Tokujin Yoshioka oder Alberto Meda. Es ist eine Arbeit des kontinuierlichen, täglichen Austauschs, beginnend beim Dialog über Experimente bis zu den Prototypen. Nur wenn ich sicher bin, dass das Produkt industriell hergestellt werden kann und zum Charakter von Kartell passt, kommt es auf den Markt. Jeder Designer hat die kreative Entwicklung von Kartell beeinflusst – mit seinem Genie und seiner Feinfühligkeit.

formfaktor: In der Möbelindustrie gibt es sehr viele Unternehmen und immer mehr drängen auch asiatische Firmen auf den europäischen Markt. Wie hebt sich Kartell vom Mitbewerb ab?

LL: Ich glaube, heutzutage muss Design ein Erlebnis und Emotionen bieten. Das Kartell-Erlebnis, das wir mit unseren Produkten bieten, ist die Möglichkeit, unterschiedliche Stile zu verbinden. Mit den Stücken in unserem Katalog können neue, originelle, einzigartige und aufregende Lösungen generiert werden. Es geht nicht darum, ein Produkt anzubieten, sondern eine charakteristische Idee, die sich dann jeder zu eigen machen kann. Durch das Kombinieren von Objekten und deren Personalisierung ergeben sich exponentiell viele Möglichkeiten.

formfaktor: Ist das „Made in Italy“ nach wie vor ein Qualitätssiegel, das weltweit einen guten Ruf hat?

LL: Italienisches Design und „Made in Italy“ im Allgemeinen sind Werte, die in der ganzen Welt geliebt werden und die sich erfolgreich den Herausforderungen auch in schwierigen neuen Märkten gestellt haben. In den letzten Jahren liegt der Fokus zunehmend auf Designprodukten, die übergreifend und vielseitig Konsumenten jedes Alters rund um die Welt ansprechen, indem sie eine Identität kreieren, die den Geschmack und die Ästhetik jedes Landes treffen können. So haben beispielsweise Kartell-Produkte die Eigenschaft, in unterschiedlichen Kontexten und in jeglichem Stil eingefügt werden zu können und dennoch ihre präzise Identität beizubehalten, die sofort wiedererkennbar ist. Das gab uns die Möglichkeit, über die Jahre hinweg verschiedenste Bereiche und Länder zu bedienen, ohne dabei jemals die DNA der Marke zu opfern.

formfaktor: Kartell fährt eine Verkaufsstrategie mit einerseits vielen Flagship-Stores, aber andererseits auch starker Präsenz im Handel. Was ist Ihnen dabei wichtig?

LL: In den letzten Jahren hat Kartell sein Verkaufsnetzwerk und sein Markenimage mit einem ambitionierten weltweiten Wachstumsplan gestärkt. Zusätzlich zu den 2.500 Händlern in mehr als 140 Ländern hat das Unternehmen 140 Flagship-Stores und 250 Shop-in-Shops aufgebaut. Die Single-Brand Stores sind Flächen, die dem Kunden nicht nur eine Produktauswahl zeigen, sondern auch die Identität und die Werte der Marke vermitteln sollen: Design, Innovation, industrielle Produktion und Vielseitigkeit. Der Raum ist auf den Kunden zugeschnitten, mit Modulen, die sich an die unterschiedlichen Größen der Shops anpassen lassen und mit Shop-Fenstern, die regelmäßig verändert werden. Wir sehen unsere Geschäfte als eine Möglichkeit, unseren Kunden ein Erlebnis zu bieten, das, neben dem Produkterwerb, auch Emotionen evoziert und eben ein echtes Kartell-Erlebnis offeriert. Unsere Produkte sind als zeitlose Ikonen designt und aus diesem Grund bieten wir in unseren Geschäften auch Projekte, Events und spezielle Kooperationen gemeinsam mit dem Verkauf der Produkte an.

formfaktor: Wo sehen sie potenzielle Zukunftsmärkte für Kartell?

LL: Mit unserem Plan zum weltweiten Ausbau des Verkaufsnetzwerkes und der Stärkung des Markenimages fokussieren wir unsere Tätigkeiten vor allem auf die USA und den Fernen Osten, aber ohne Europa zu vergessen.

formfaktor: Billiges Plastik steht als Umweltverschmutzer in der Kritik. Als ein Unternehmen, das sich auf das Material Kunststoff spezialisiert hat, gehen sie auch ökologische Wege. Wie passt das zusammen?

LL: Kartell hat sich immer für Nachhaltigkeit und den Schutz der Umwelt eingesetzt. Die Leidenschaft für hervorragende Qualität, die die Entwicklungen bei Kartell von Anfang an bestimmt hat, hat dazu geführt, dass wir uns darauf konzentrieren, verantwortungsvoll mit der Umwelt umzugehen und auf nachhaltige Prozesse zu achten. Ein Kartell-Produkt ist ein zeitloses Produkt, das aus dem Respekt für die Umwelt heraus geschaffen wurde und das nach seiner Nutzungszeit in einem Museum oder bei einem Sammler stehen kann. Es ist unsere Berufung, Werte zu schaffen, nicht nur Objekte, sondern Stücke, die Kultur mitgestalten, nicht Objekte, die weggeworfen werden, wenn man sie nicht mehr länger braucht, sondern Erinnerungsstücke. Das Bekenntnis von Kartell zur Einführung und Verbesserung des Umweltmanagementsystems wird mehr und mehr durch die Einhaltung von internationalen Zertifizierungsprotokollen gewährleistet. In puncto Gesundheitsschutz gibt es die GREENGUARD-Zertifizierung für alle Produkte, wodurch ein niedriges Emissionsniveau und damit eine gute Luftqualität in Innenräumen bestätigt wird.

Wir haben immer nach neuen Materialien gesucht, die unseren Qualitätsstandards und Anforderungen entsprechen. Die Arbeit an Biokunststoffen ist Teil eines größeren Innovationsprojekts. Dieses Material wird sicher neue Grenzen für eine nachhaltige Produktion setzen. Aber es ist nicht das Einzige. Wir haben viele Projekte, die in verschiedene Richtungen gehen und wir forschen ständig an Materialien und Technologien.

formfaktor: Haben Sie ein Lieblingsprodukt von Kartell?

LL: Ich habe kein Lieblingsprodukt. Jedes Kartell-Produkt erzählt für mich eine einzigartige Geschichte, weil es das Ergebnis eines langen Prozesses ist, um jedes Detail in Sachen Stil, Technologie und Komfort perfekt zu machen. Ich kontrolliere persönlich alle Schritte: das Konzept, das Projekt und die Phase der industriellen Produktion.

formfaktor: Wie kam es eigentlich zum Namen Kartell?

LL: Über die Entstehung des Namens Kartell haben wir keine präzisen Quellen. Wir nehmen an, es war einfach ein schöner Name, zu dem mein Großvater durch seinen eigenen Nachnamen „Castelli“ inspiriert wurde – um den Markennamen internationaler klingen zu lassen.

Vielen Dank für das Interview!

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