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STARTS Prize 2020 – Biodiversität und Biotechnologie

von Markus Schraml
STARTS Prize 2020

Welch zukunftsträchtige Innovationen aus der Verbindung von Technologie und Kunst hervorgehen können, zeigt alljährlich der STARTS Prize. Diese Initiative der Europäischen Kommission ehrt in seiner aktuellen Ausgabe die kanadische Architektin und Installationskünstlerin Andrea Ling mit dem „STARTS PRIZE ’20 – Grand Prize Artistic Exploration“ und die russische Künstlerin Olga Kisseleva mit dem „STARTS Prize ’20 Grand Prize – Innovative Collaboration“. Neben der STARTS-Trophy erhalten die Preisträgerinnen jeweils 20.000 Euro. Außerdem wurden eine Reihe von Honorary Mentions vergeben. In einem breiten Feld von Themen werden die brennendsten Fragen unserer Zeit aufgegriffen: Stellenwert von Natur, Biotechnologie, Wahrnehmung in der digitalen Welt, manipulative Informationstechnologien, das Verhältnis Mensch und Viren, Open-Source-Recycling, Wohnungskrise oder Polizeigewalt.

Natürlicher Zerfall als Erneuerung

Die Preisträgerin Andrea Ling arbeitete für „Design by Decay, Decay by Design“ mit dem Biotechnologie-Unternehmen Ginko Bioworks zusammen. Ihr Ansatz führt den Vorgang des natürlichen Verfalls in den Designprozess ein. Es geht um die Entwicklung neuer Biomaterialien, wofür Ling Rapid-Prototyping nutzt. Abfallmaterial wird zu einem neuen Ausgangsmaterial. Konkret verfolgte Andrea Ling in diesem Projekt mehrere Ansätze. So wurden aus Pilzen und menschlichem Speichel Enzyme gewonnen, die anschließend in Biokomposite eingeführt wurden, um diese umzuwandeln. In einem weiteren Experiment wurden unterschiedliche Stämme von Streptomyces-Bakterien zur Besiedlung von Zellulose und anderer Biokunststoffe verwendet, um sie zu transformieren. Außerdem erforschte Ling verschiedene Pilzarten wie den schwarzen und grünen Schimmelpilz in Mischkulturen, ebenfalls um Materialien umzuwandeln und selektiv abzubauen. „Andrea Ling möchte durch ihre Arbeit den Zugang zu zirkulären Systemen mit deren Fähigkeit fördern, aus der buchstäblichen Verrottung heraus zu wachsen, sich anzupassen und zu reproduzieren. Solche Systeme, ist sie überzeugt, verfügen über eine Resilienz, die man in den zurzeit vorherrschenden industriellen Systemen vergeblich sucht“, heißt es in der Aussendung der STARTS Prize-Organisatoren.

Die Natur im Mittelpunkt

Mit ihrem Projekt „EDEN“ will Olga Kisseleva die globale Biodiversität fördern. Die russische Künstlerin sucht nach Möglichkeiten, ausgestorbene oder vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten wieder wachsen zu lassen. Kisseleva arbeitet dabei eng mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie wie der Orange Telecom France, den Centre National de Recherche Scientifique oder dem Institut National de Recherche Agronomique (INRA) zusammen. Ausgehend vom Ulmensterben und der Kreuzung zweier Ulmenarten, um einen gegen das Ulmensterben verantwortlichen Pilz resistenten Baum zu schaffen, erforschte Kisseleva in der Folge, wie Bäume generell mit ihrer Umwelt kommunizieren. Sie entwickelte Sensoren, die molekulare Emissionen messen, mit denen Pflanzen sich mit ihrer Umgebung austauschen. Über ein Telekommunikationsnetzwerk verband die Künstlerin Bäume auf der ganzen Welt miteinander, um einen Austausch zwischen Pflanzen zu ermöglichen, und diesen gleichzeitig für Menschen sicht- oder hörbar zu machen. Der nächste Schritt war für Kisseleva die Entwicklung eines interaktiven Programms, gemeinsam mit Orange Telecon Frankreich, das die Kommunikation eines Pflanzen-Netzwerks einer ganzen Region materialisiert und analysiert. Diese dynamische Datenbank enthält Informationen über die dort wachsenden Bäume sowie Verbindungen zwischen dem pflanzlichen Erbe, des Klimas und der Gesellschaft. Diese Datenbank ist wiederum die Quelle für interaktive Visualisierungen der Künstlerin. Olga Kisselevas Streben ist es, die Verantwortung des Menschen durch einen innovativen Einsatz von Kommunikations- und Biotechnologie sichtbar und bewusst zu machen.

Die Europäische Kommission sprach auch 10 „Honorary Mentions“ aus. Allesamt Projekte, die sich auf unterschiedliche Weise mit der aktuellen Situation unseres Planeten und der Gesellschaft auseinandersetzen. Der Niederländer Dave Hakkens hat ein alternatives Plastik-Recyclingsystem entwickelt. Sein Projekt will Kunststoffwiederverwertung fördern, indem es Open-Source-Recycling-Maschinen, –Produkte und -Tools für alle zugänglich macht. Es geht also darum, jeden einzelnen Menschen zu einem Plastik-Recycler zu machen. Seine „Werkzeuge“ helfen bei der Kunststoffsammlung, der Maschinenproduktion, dem Schreddern bis hin zur Herstellung und decken somit den gesamten Prozess des Kunststoffrecyclings ab. Pei-Ying Lin aus Taiwan wiederum hat sich dem Thema der Beziehung zwischen Mensch und Virus verschrieben. Mit ihrem Projekt „Proposals of Collaboration with the Viral Entities“ will sie ein tieferes Verständnis der Rolle des Menschen im Ökosystem eröffnen. Pei-Ying Lin hat ein visionäres Kochbuch für das Jahr 2068 erstellt, in dem sie Rezepte für Lebensmittel anführt, die mit Viren zubereitet werden. Damit propagiert sie eine neue Wahrnehmung unseres Selbst in der Biosphäre.

Das Kunstwerk „Sociality“ von Paolo Cirio dokumentiert über 20.000 Patente sozial manipulativer Informationstechnologien. Auf der Website Sociality.Today zeigt Cirio Tausende von Erfindungen, die auf soziale Kontrolle, Manipulation und Überwachung ausgerichtet sind bzw. dafür verwendet werden können. Mit „Sociality“ entlarvt Cirio endgültig das manipulative Potenzial von Online-Plattformen, Interfaces und Algorithmen und thematisiert damit auch die ethischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Strukturen, die dahinter stehen. Die Installation „Spoiled Spores“ von Avril Corroon besteht aus 25 giftigen Käsesorten, die aus Kulturen von giftigem Schwarzschimmel hergestellt wurden, der aus Mietwohnungen in Dublin und London stammt. Corroon thematisiert damit die überhöhten Wohnungspreise, indem sie aus Schimmel vermeintlich hochwertigen Käse herstellt. Die verschiedenen Käse sind mit Hinweisen auf Inhaltsstoffe, Mietkosten und die jeweiligen Mieter*innen versehen. Jiabao Li aus China beschäftigt sich in „TransVision“ mit der Wahrnehmung der Realität durch die Filter der digitalen Medien. Wie wird Realität durch die Technologie vermittelt? Jiabao Li hat drei Helmobjekte entwickelt, die die verzerrte Realität demonstrieren und hinterfragt obsessives Online-Suchverhalten oder durch digitale Medien hervorgerufene Überempfindlichkeit.

Perception iO“ (Input Output) von Karen Palmer widmet sich den Themen Strafverfolgung und Voreingenommenheit. Der Nutzer / die Nutzerin übernimmt dabei die Rolle eines Polizeibeamten, der sich ein interaktives Schulungsvideo über eine eskalierende Situation ansieht. Erlebt wird diese aus Perspektive der Körperkamera des Polizisten, der auf Protagonist*innen verschiedener Ethnien trifft, die entweder Kriminelle oder Personen mit psychischen Problemen spielen. Das „Perception iO“-System, das inhaltlich auf Erkenntnissen aus der Verhaltenspsychologie und der Neurowissenschaft basiert, verfolgt dabei den Gesichtsausdruck der Teilnehmer*innen. Abhängig davon wie auf die Szene reagiert wird, nimmt die Erzählung unterschiedliche Verläufe. Dabei kann der Polizist seinem Gegenüber helfen, die Person verhaften oder gar erschießen. Die immersive Erfahrung von „Perception iO“ beruht auf einer Kombination aus KI-Systemen, Erkennung von Gesichtsemotionen und Blickverfolgung.

Mit der Durchführung des STARTS Prize sind Ars Electronica, BOZAR und Waag betraut.


 

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